Der Triage-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts im Spiegel der Professionen
Am 28. Dezember 2021 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass der Gesetzgeber zum Schutz von Menschen mit Behinderung bei einer pandemiebedingten Triage unverzüglich Regelungen treffen muss. Welche Herausforderungen bestehen dabei in der Praxis und wie kann man das Urteil aus politischer, rechtlicher und medizinischer Perspektive einordnen?
Bioethische Themen spielen in der aktuellen politischen Diskussion im Deutschen Bundestag eine auffällig große Rolle. So fand nicht nur am 28. Januar 2022 eine allgemeine Orientierungsdebatte zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen das SARS-CoV-2-Virus (Corona-Virus) statt. Aktuell bereiten auch mehrere fraktionsübergreifende Abgeordnetengruppen Vorlagen für die gesetzliche Neuregelung der geschäftsmäßigen Sterbehilfe vor. Vorausgegangen war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das im Februar 2020 das bis dahin bestehende Verbot der assistierten Suizidbeihilfe für verfassungswidrig erklärte. Beiden Themen gemeinsam ist, dass sich in ihnen ethische Probleme, wissenschaftliche Erkenntnisse, aber auch ganz alltagspraktische Umsetzungsfragen vermischen. Dies gilt auch für den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zur pandemiebedingten Triage.
Inhalt des Beschlusses
Doch was konkret hat das Bundesverfassungsgericht eigentlich beschlossen? Anlass für den Beschluss des Gerichtes war die Beschwerde von neun Menschen, die aufgrund der Schwere ihrer Behinderung auf Assistenz angewiesen sind. Sie befürchteten eine Benachteiligung im Falle einer Triage-Situation aufgrund der Corona-Pandemie und forderten, wirksame Vorkehrungen vor einer Benachteiligung aufgrund ihrer Behinderung. Das Bundesverfassungsgericht gab den Beschwerdeführerinnen und -führern recht und verpflichtete den Gesetzgeber, unverzüglich angemessene Vorkehrungen gesetzlich zu verankern. Dem Gesetzgeber kommt bei der konkreten Gestaltung dieser Vorkehrungen ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu. Vorgeschlagen wird vom Gericht die Aufstellung konkreter Entscheidungskriterien, Verfahrensvorgaben wie etwa dem Mehraugen-Prinzip oder Dokumentationspflichten, aber auch die Regelung von spezifischen Aus- und Weiterbildungen in der Medizin und Pflege, um eine größere Diversity Kompetenz in Bezug auf Menschen mit Behinderung zu erreichen.
Doch was folgt aus diesem Beschluss ganz konkret und wie wird er aus verschiedenen, Perspektiven wahrgenommen? Noch sind viele Fragen, insbesondere im Hinblick auf die konkrete Umsetzung, offen. Um einen multiperspektivischen Blick auf das Thema zu werfen, hat die Fürst Donnersmarck-Stiftung für ihren Blog mittendrin mit mehreren Personen über das Urteil gesprochen. Eine Zusammenfassung.
Betroffenenperspektive und Stimmen aus der Politik
Für Anne Gersdorff von den Sozialhelden ist der Beschluss ein „voller Erfolg“. Ihr war besonders die Feststellung wichtig, dass die Entscheidung im Falle der Triage „nicht alleine in der Hand von Medizinerinnen und Medizinern liegen kann und darf“, sondern es gesetzliche Regelungen diesbezüglich geben muss. Gleichzeitig sieht sie auch eine große Herausforderung, eine wirklich faire Entscheidungsgrundlage für Triage-Situationen zu erarbeiten, da immer die Gefahr eines Ausspielens unterschiedlicher Patientengruppen gegeneinander bestünde. Sie fordert daher eine breite gesellschaftliche Debatte über die Triage, an der selbstverständlich auch Menschen mit Behinderung beteiligt werden müssen. Für Anne Gersdorff ist darüber hinaus besonders wichtig, dass das Bundesverfassungsgericht die Verpflichtung der Bundesregierung, Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung zu schützen, so eindeutig herausgestellt hat.
Hubert Hüppe, CDU-Politiker und früherer Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, sieht in dem Beschluss „einen unmissverständlichen und dringenden Handlungsauftrag“, den er ausdrücklich begrüßt. Außerdem fordert er für das anstehende Gesetzgebungsverfahren die Einbeziehung von Menschen mit Behinderung. Bei der Umsetzung hält er die Aufstellung medizinischer Kriterien für „zu gewagt“ und plädiert dafür, „einen Diskriminierungsschutz durch Verfahren“, beispielsweise das Mehraugen-Prinzip oder Ethikkommissionen, zu erreichen. Entscheidend ist sicherzustellen, dass „allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird.“ Die Einhaltung des Gesetzes könne am besten durch eine Melde- und Dokumentationspflicht erreicht werden.
Recht und Medizin
Für Prof. Dr. Oliver Tolmein, der als Rechtsanwalt die neun Klägerinnen und Kläger mit Behinderung vertreten hat, stellt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts einen großen Schritt dar, der „Bedeutung über die Triage-Problematik hinaus hat.“ Die Besonderheit des Beschlusses besteht darin, dass sich explizit herausstellt, dass „der Gesetzeber untätig geblieben ist, also etwas gerade nicht getan hat.“ Dies ist schwerer zu belegen, sodass Beschwerdeführer größere Hürden zu überwinden haben. Gleichzeitig sieht Oliver Tolmein die Schwierigkeiten, die bei der konkreten Umsetzung des Beschlusses auf den Gesetzgeber warten. Denn bei der Triage geht es um „die Verteilung der existentiellen Ressource ‚Lebenschancen‘“, die mit bedeutenden ethischen Fragen verbunden ist. Dafür braucht es anschauliche und klare Regelungen, aber – mittelbar – auch eine stärkere Berücksichtigung von Diversitätsaspekten in der Ausbildung und dem Studium.
Ein Urteil mit offenem Ende
Auch wenn gerade wieder die Diskussion um die Regelung der Triage – insbesondere über die Zusammensetzung der eingeladenen Verbände und Sachverständigen zum Fachgespräch im Gesundheitsausschuss – im vollen Gange ist, hat der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts wichtige Pflöcke eingeschlagen. Das Schutzrecht von Menschen mit Behinderung – mittelbar wohl aber auch von anderen vulnerablen Gruppen – wurde sehr deutlich markiert. Gleichzeitig werden die Regelungen aller Voraussicht nach vor allem Verfahrensaspekte wie das Mehraugen-Prinzip sowie Dokumentations- und Nachweispflichten umfassen. An dieser Stelle kommt dem Gesetzgeber ein großer Gestaltungsspielraum zu. Die grundlegend existentielle Herausforderung der Triage – nämlich Leben gegen Leben abwägen zu müssen – wird damit aber nicht endgültig geklärt. Es bleibt immer eine medizinisch und ethische Extremsituation.
Zuletzt hat aber das Bundesverfassungsgericht deutlich den Bedarf angemahnt, das Wissen und Verständnis von Behinderung als ein Resultat sozikultureller Aushandlungspraktiken in die medizinischen Aus- und Weiterbildung hineinzutragen und damit die Kompetenz von Medizinerinnen und Mediziner im Umgang mit menschlicher Diversität zu stärken – eine Aufgabe, die von Menschen mit Behinderung schon seit langer Zeit eingefordert wurde. Sollte dies vom Gesetzgeber angegangen werden, weist der Beschluss, wie die beiden anderen biopolitisch brisanten Themen der aktuellen Zeit, möglicherweise wirklich deutlich über die aktuelle Pandemie hinaus. Zu wünschen wäre es.