Triage-Gesetzgebung in Deutschland. Überblick über die aktuelle Diskussion
Die Sorge um Verfahrensweisen bei Engpässen in der gesundheitlichen Versorgung in Krankenhäusern ist im Zusammenhang mit der Intensität der Auswirkungen der Corona-Pandemie zurückgegangen. Doch auch mit der Neuregelung ist die Triage als wichtiges Thema, besonders für Menschen mit Behinderungen, nicht vom Tisch. Wie wirkt sich die neue Gesetzgebung aus?
Am 28. Dezember 2021 forderte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber zu unverzüglichen Regelungen einer pandemiebedingten Triage und zum Schutz von Menschen mit Behinderung gegen eine behinderungsbedingte Ungleichbehandlung auf. Das sorgte insbesondere unter den Selbstvertretungsorganisationen für große Euphorie. Das Urteil wurde als wichtiger Meilenstein gefeiert: Die Erwartungen an die Politik – und die gesellschaftliche Diskussion – waren groß. Im November 2022 hatte die Ampelkoalition dann geliefert und ein neues „Triage-Gesetz“ vorgelegt, welches am 25. November 2022 vom Bundestag verabschiedet wurde.
Auch wenn die aktuelle Krankheitslast durch die Corona-Pandemie zurückgegangen zu sein scheint, war die Regelung der Triage aufgrund der – speziell durch den Fachkräftemangel ausgelösten – Engpässe in den deutschen Krankenhäusern überfällig. Es lohnt sich daher, sich intensiver mit dem Gesetz und den verschiedenen Reaktionen darauf zu beschäftigen. Denn auch die Neuregelung des Gesetzgebers führt zu Widersprüchen aus unterschiedlichsten Perspektiven.
Regelungen des Triage-Gesetzes
Grundlage der gesetzlichen Neuerungen ist das „Zweite Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes“. Mit der Novelle fügte der Gesetzgeber dem Infektionsschutzgesetz (IsFG) den neuen Paragraph 5c „Verfahren bei aufgrund einer übertragbaren Krankheit nicht ausreichend vorhandenen überlebenswichtigen intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten“ hinzu.
Ziel der Gesetzesnovelle war es einerseits, den vom Bundesverfassungsgericht geforderten Schutz vor der Diskriminierung kranker und/oder behinderter Menschen bei einer Triage-Entscheidung zu gewährleisten und andererseits eine Rechtssicherheit für die behandelnden Ärzt*innen zu schaffen. Die wesentlichen Festlegungen des neuen Paragraphen umfassen:
- Das Verbot, im Falle einer Mangellage aufgrund einer Behinderung, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechtes oder der sexuellen Orientierung bei der Zuteilung von überlebenswichtigen, intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten benachteiligt zu werden.
- Im Falle einer Entscheidungssituation zwischen einem oder mehreren Betroffenen muss die Zuteilungsentscheidung aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeiten getroffenen werden. Komorbiditäten und/oder Behinderungen dürfen nur berücksichtigt werden, wenn sie unmittelbare Auswirkungen auf die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit haben. Kriterien wie die Lebensqualität, eine Behinderung und/oder das Alter werden explizit ausgeschlossen.
- Die sogenannte Ex-Post-Triage, also das Abbrechen einer begonnenen Behandlung zugunsten anderer Patient*innen, wird explizit ausgeschlossen. Davon ausgenommen ist ein Abbruch der Behandlung aufgrund von veränderten Therapiezielen, wenn bspw. eine Genesung doch nicht mehr zu erreichen ist.
- Zuteilungsentscheidungen müssen immer einvernehmlich von zwei voneinander unabhängigen Ärzt*innen getroffen werden. Besteht kein Einvernehmen, wird die Entscheidung einer dritten Ärzt*in eingeholt. Nur jeweils eine Ärzt*in darf unmittelbar in den Behandlungsprozess einbezogen werden.
- Ist eine Person mit Komorbidität und/oder Behinderung von der Zuteilungsentscheidung betroffen, muss zusätzlich die Entscheidung einer Person berücksichtigt werden, die mit ihrer „Fachexpertise den besonderen Belangen dieser Patientin oder dieses Patienten Rechnung“ tragen kann. Die Mitwirkung an den Entscheidungen kann auch digital erfolgen.
- Die Zuteilungsentscheidungen müssen dokumentiert und bei der zuständigen Landesbehörde gemeldet werden.
- Die Auswirkungen des Triage-Gesetzes werden bis spätestens 31. Dezember 2025 extern, wissenschaftlich evaluiert und anschließend gegebenenfalls überarbeitet.
Kritik an der Gesetzesnovelle
Auf den ersten Blick wirkt es so, als habe der Gesetzgeber mit der neuen Triage-Regelung viele Forderungen aufgenommen, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes laut geworden sind. Das Gesetz definiert einen klaren Entscheidungsprozess, der auf einem Mehraugen-Prinzip beruht und im Falle von Menschen mit Behinderung ein zusätzliches, nicht-ärztliches Votum einfordert. Darüber hinaus sind alle Entscheidungen zu dokumentieren und an die Aufsichtsbehörde zu melden.
Dennoch stand das neue Gesetz von Beginn an in er Kritik. Hierbei lassen sich im Wesentlichen zwei unterschiedliche Argumentationsstränge ausmachen, die sich auf die unterschiedlichen gesellschafts- und fachpolitischen Positionen der Kritiker*innen zurückführen lassen.
Vertreter*innen der Ärzteschaft wie die Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) oder die Bundesärztekammer (BÄK) wendeten sich insbesondere gegen das Verbot der Ex-Post-Triage. Diese Regelung, so lassen sich die verschiedenen Stellungnahmen zusammenfassen, würde künftig zu mehr Todesfällen führen. Eine nachträgliche Veränderung der Therapieziele – das kann auch den Abbruch der Therapien bedeuten – sei eine „gelebte Praxis in der Intensivmedizin“. Durch die Gesetzesänderung werde dies nun erschwert. Die Sorge von Ärzt*innen vor gerichtlichen Folgen von Therapiezieländerungen steige dadurch. Damit ist aus Sicht von Ärztevertrer*innen das gesetzliche Ziel der verbesserten Sicherheit für Behandelnde nicht erreicht.
Der Kritik der Ärzteverbände steht insbesondere die Kritik der Selbsthilfebewegung entgegen. Diese kritisierte insbesondere das Festhalten an einer Zuteilungsentscheidung auf Basis der, wenn auch nur kurzfristigen, Überlebenswahrscheinlichkeit. Denn diese Entscheidung binde weiterhin die Zuteilungschancen an körperlichen Faktoren. Dadurch seien Menschen mit Behinderung sowie alte Menschen potenziell, strukturell benachteiligt. Das Triage-Gesetz genüge damit den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention nicht, wie Theresa Degener ausführte. Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte kritisierte, die Gesetzesnovelle stelle „Gleichwertigkeit allen menschlichen Lebens in Frage“ und öffne damit ein „Einfallstor für die – ungewollte – indirekte Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen und von alten Menschen bei der Entscheidung über lebensrettende Behandlung.“ Statt einer kriterienbasierten Entscheidung votieren diese Akteure für eine Zufallsentscheidung nach dem „First-Come-First-Serve-Prinzip“.
Fazit: Das Dilemma bleibt
Das Dilemma bleibt also weiterhin bestehen und noch ist keine Lösung für die widerstreitenden Interessen insbesondere auf Seiten der Medizin sowie der Selbsthilfebewegung zu sehen. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass es sich bei der Triage-Entscheidung um eine existentielle Frage handelt. In letzter Konsequenz bedeutet sie nämlich immer auch (endgültige) Exklusion Einzelner und stellt damit ein ethisches Dilemma, ein Aushandlungsprozess zwischen Individuum und Kollektiv dar, der sich letztlich nur normativ lösen lässt. Darauf hat auch bereits der Deutsche Ethikrat in seinen Auseinandersetzungen mit der Covid-19-Pandemie immer wieder hingewiesen.
Dass das Triage-Gesetz nun derart stark diskutiert wird, hängt möglicherweise auch damit zusammen, dass der Gesetzgeber entschieden hat, diese Regelung nicht allgemein zu fassen, sondern in das Infektionsschutzgesetz eingefügt hat, ihm damit auch rechtspolitisch ein klares Framing gegeben hat. Ausgeblieben sind dagegen die – ebenfalls vom Bundesverfassungsgericht angemahnten – Maßnahmen, das Wissen und Verständnis von Behinderung als eine soziokulturelle Konstruktion in der medizinischen Ausbildung stärker zu verankern.
Es ist davon auszugehen, dass die Debatten um das Triage-Gesetz noch nicht abschließend geführt sind. Möglicherweise wird auch das Bundesverfassungsgericht hierbei nochmal zu einer verfassungsrechtlichen Einschätzung gezwungen sein. Constantin Grosch, Selbsthilfeaktivist und Landtagsabgeordneter in Niedersachsen für die SPD, hat jedenfalls schon angekündigt, eine Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz einzulegen. Die Lösung der Triage-Problematik ist also weiterhin ein Prozess mit offenem Ausgang.
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