Salafistische Jugendszene erforscht
Ergebnisse einer der ersten empirischen Untersuchungen zur djihadistischen Jugendszene in Deutschland legte das Forschungsnetzwerk Radikalisierung und Prävention (FNPR) der Universitäten Osnabrück und Bielefeld vor, das erst vor zwei Jajn seine Arbeit aufgenommen hat. Die Analyse des vollständigen Chatprotokolls einer djihadistischen Gruppe habe gezeigt, dass ein selbst gebastelter Islam in einer WhatsApp-Gruppe junge Menschen systematisch radikalisiert hat, teilen die Universitäten Bielefeld und Osnabrück mit.
Das untersuchte Chat-Dokument enthält insgesamt 5.757 Postings von zeitweilig bis zu zwölf Gruppenmitgliedern, deren Identität nicht preisgegeben wurde. Die Postings zeigen die Kommunikation und Gruppendynamik unmittelbar vor einem geplanten Anschlag von jungen Menschen aus „normalen Verhältnissen". Diese „natürlichen Daten" vermitteln nach Angaben des Forschungsteams Informationen zu einer Vielzahl von Aspekten, die für die Radikalisierung wichtig sind: Die Gruppenstrukturen, ihre Hierarchie, die Dynamik und der Druck der Gruppe auf ihre Mitglieder, wie auch die Entwicklung einer so genannten „Lego"-Ideologie, die immer stärker die Gemeinsamkeiten und das Selbstbild der jungen Menschen prägt.
Studienergebnisse des FNPR-Forschungsnetzwerks zeigen, dass die Gruppenmitglieder offenkundig nur über rudimentäre oder gar keine Islamkenntnisse verfügen. Selbst die Gestaltung einfachster ritueller Alltagshandlungen – wie zum Beispiel die Verrichtung des Pflichtgebets – sei Teilen der Gruppenmitglieder nicht bekannt. „In Gänze betrachtet konstruiert die Gruppe nach dem Baustein-Prinzip einen Gruppenkult, der in all seinen zentralen Aussagen auf Willkür beruht und als krude und einfältig bezeichnet werden kann", stellt Dr. Michael Kiefer von der Universität Osnabrück fest. Er und sein Kollege Bacem Dziri haben auf der Grundlage einer islamtheologischen Analyse gezeigt, wie zentrale Figuren in der Gruppe geschickt eine Copy-und-Paste-Ideologie aus Koranversen und Botschaften djihadistischer Führer zusammengeschnitten haben. Zentral dabei sei von Anfang an die Gewaltorientierung.
„Die selbst erzeugte und nahezu perfekt durchorganisierte Radikalisierung der Gruppe sollte vor dem Hintergrund einer kritischen Jugendphase verstanden werden", ergänzt Viktoria Roth aus Bielefeld. Jugend ist eine wichtige Phase des Übergangs zum Erwachsensein. Die Gesellschaft hat für diese Phase zentrale Entwicklungsaufgaben, wie zum Beispiel die Loslösung vom Elternhaus. „Das nutzen ideologisch hoch motivierte Personen aus, um Jugendliche in ihre extremistische Gruppe zu ziehen", betont Fabian Srowig von der Universität Bielefeld. Die salafistisch geprägte Radikalisierung und ihre im Chat kommunizierten logistischen und spirituellen Anschlagsvorbereitungen sind Schritte auf dem Weg zum Erwachsensein. Was die Gruppe eint, ist vor allem die naive und romantisierende Vorstellung gemeinsam auf den Schlachtfeldern des Djihad zu stehen und dabei zum Mann zu werden.
In seinen abschließenden Empfehlungen fordert das Forschungsteam insbesondere eine Ausweitung der Feldforschung. „Die systematische und wissenschaftlich unabhängige Fallanalyse kann der Prävention helfen, weil sie frühe Ursachen entdecken kann", meint Prof. Dr. Andreas Zick. „Bevor sich junge Menschen radikalisieren, werden Grundsteine dafür in der frühen Sozialisation gelegt", fügt der Direktor des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld hinzu. Ferner benötige die Radikalisierungsprävention eine solide Wissensbasierung. „Immer noch arbeiten zu viele Projekte in experimentellen Anordnungen. Es fehlt ein profundes Wissen über Radikalisierungsprozesse bei Jugendlichen", mahnt Dr. Michael Kiefer vom Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück.
Hintergrundinformationen zu Buch, dessen Autorinnen und Autoren und einem abschließende Policypaper mit Empfehlungen an Akteure aus Politik, Wissenschaft Gesellschaft und Praxis unter https://ekvv.uni-bielefeld.de/blog/uniaktuell/entry/von_harmlosen_predigten_bis_zum
Quelle: Pressemitteilung der Uni Bielefeld und Osnabrück vom 10. Juli 2017