Für Menschen mit Behinderung tut sich zu wenig
Die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen zur Stützung von Wirtschaft und Arbeitnehmer*innen zielen aus Sicht des Interessenverbands Selbstbestimmt Leben (ISL) fast vollständig an den Interessen von Menschen mit Behinderung vorbei. Es fehlt eine inklusive Perspektive auf die Gestaltung von Politik.
Zur Bewältigung der unmittelbaren und längerfristigen Folgen der Corona-Pandemie hat die Bundesregierung Anfang Juni ein umfangreiches Maßnahmenpaket verabschiedet. Die Maßnahmen zielen darauf ab, die Wirtschaft zu stärken, Arbeitsplätze zu erhalten, soziale Härten abzufedern, Länder und Kommunen im der Krisenbewältigung zu stärken und insbesondere junge Menschen und Familien zu unterstützen. Diese positiven und ambitionierten Maßnahmen bekommen jedoch einen bitteren Beigeschmack, da behinderte Menschen und deren inklusive Teilhabe, in diesem Maßnahmenpaket kaum Berücksichtigung finden. Die Maßnahmen sehen vor, dass im Bereich der Bildung, der öffentlichen Verwaltung und im Zulassungs- und Vergaberecht, schnellstmöglich Fortschritte durch entsprechende Investitionen und unbürokratische Lösungen erzielt werden sollen. Schul-, Hochschul- und Berufsbildung sowie alle behördlichen Angelegenheiten sollen für den einzelnen digital und unkompliziert nutzbar sein. Bei all diesen Vorhaben ist von behinderten Menschen und Barrierefreiheit keine Rede. Es sollten beispielsweise flächendeckend Schulungen zur Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung unter Einbeziehung der Betroffenengruppen geschaffen werden. Die neue Corona-Warn-App und das letzte Amtsblatt auf Altpapier muss digital für alle zur Verfügung stehen.
„Hier wird wieder einmal deutlich, dass wir behinderte Menschen, weiterhin behindert und exkludiert werden, da wir in den Ambitionen der Bundesregierung zum digitalen Fortschritt überhaupt nicht mitgedacht werden,“ kritisiert Horst Frehe, Vorstandsmitglied der Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL). Alle Förderrichtlinien von Bund und Länder müssen an Mindestanforderungen für Barrierefreiheit gekoppelt werden und in allen Bereichen gewährleistet werden. Private Anbieter von Waren und Dienstleistungen müssen endlich zügig zur Barrierefreiheit verpflichtet werden. Weiter appelliert Frehe: „Dabei bietet gerade die Digitalisierung ein unerschöpfliches Innovationspotenzial, dass Barrierefreiheit und Teilhabe für behinderte Menschen geradezu verlangt und fordert. Berufliche, schulische und kulturelle Inklusion könnten wachsen und uns behinderte Menschen als Akteur*innen und Konsument*innen in all diesen wichtigen Bereichen Chancengleichheit und Inklusion ermöglichen.“
Auch in Bezug auf die Selbstbestimmung behinderter Menschen verpasst der Maßnahmenkatalog eine wichtige Gelegenheit. Gemeinnützige soziale Unternehmen, wie beispielsweise soziale Inklusionsunternehmen, werden durch Kredithilfen unterstützt, behinderte Menschen als individuelle Arbeitgeber*innen, die im Rahmen der persönlichen Assistenz, Assistentinnen und Assistenten beschäftigen, bleiben jedoch völlig außen vor und müssen weiterhin ihre Beschäftigten knapp über Mindestlohnniveau entlohnen. Glaubt man den Bekenntnissen der Bundesregierung, hätte eine Absicherung der tariflichen Bezahlung der Assistent*innen vorgesehen werden müssen. Die Förderung gemeinnütziger sozialer Unternehmen ist ein Schritt in die richtige Richtung, um Arbeitsplätze zu erhalten, eine wirksame und ernstgemeinte selbstbestimmte Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben, trägt diese Maßnahme jedoch keinesfalls Rechnung.
Das Maßnahmenpaket ist, wenn überhaupt, gezeichnet von dem Jargon der Behindertenhilfe und lässt behinderte Menschen als selbstbestimmte, mitgedachte und inkludierte Gesellschaftsgruppe, größtenteils außen vor. Um wirksame gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu erreichen, bedarf das Maßnahmenpaket dringender Nachbesserungen, z.B. durch eine Finanzierung sozialer Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, die seit Wochen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen waren und noch sind, die der Gesetzgeber gemeinsam mit den Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen, erarbeiten und beschließen muss.
Die ISL erwartet von der Bundespolitik, dass sie Inklusion, Selbstbestimmung und Barrierefreiheit als handlungsleitende Prinzipien des Maßnahmenpaketes begreift, die in den Maßnahmen ihren Niederschlag finden müssen. Zeitnaher Dialog und Tatkraft sind dringend geboten, um diese wichtige und zukunftsweisende Chance nicht verstreichen zu lassen. Denn hier wird sich zeigen, ob die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) auch in Krisenzeiten ihre Wirkung entfalten kann.
Quelle: Pressemitteilung des ISL e.V. vom 12.6.2020