Handlungsfeld im Schatten oder Bindeglied zwischen Alten und Gesellschaft?
Altwerden: Soziale Arbeit in der Altenhilfe
In stationären Einrichtungen der Altenhilfe geht es in erster Linie darum, Menschen zu pflegen. Notstand und starre Hierarchien sind gegenwärtig. Fachkräfte der Sozialen Arbeit gelten hier – nicht selten – als Exoten. In der Gemeinwesenarbeit und im Quartiersmanagement ist die Arbeit schon anders, ja, vielleicht auch attraktiver. Aber um ein Seniorenfrühstück und ein Bingospiel zu organisieren – muss ich dafür studiert haben?
Inhalt- Soziale Arbeit mit Senioren hat Potenzial
- Ein Beispiel für Innovation: das Domino CoachingTM-Pflegeverfahren
- Das älter werdende Ehrenamt und die Berufsethik Sozialer Arbeit
Sozialarbeiter:innen und Sozialpädagog:innen schrecken vor Tätigkeitsfeldern in der Seniorenarbeit zurück. Folgen Sie damit den gängigen „Trends“, die in der Gesellschaft herrschen? Salopp gesagt: „Altenarbeit ist nichts für mich – da mache ich lieber etwas mit jungen Menschen?“
Dieser Beitrag nähert sich der Frage an, was das Feld der Altenhilfe den Fachkräften Sozialer Arbeit bieten kann. Es zeigt auf, wo die Reise hingehen könnte – mit dem Blick auf sich verändernde Haltungen zum Altsein und Altwerden.
Soziale Arbeit mit Senioren hat Potenzial
Es ist möglicherweise eine arrogante Behauptung, dass Soziale Arbeit mit alten Menschen Potenzial hat. Es stellt sich oft die Frage, wofür weitere Disziplinen benötigt werden. Studien- und Ausbildungsgänge im Gesundheitswesen reformieren sich, die Pflege wird zunehmend akademisiert. Ist eine Pflegedienstleitung nicht schon Generalistin genug, arbeitet sie nicht ähnlich wie eine Sozialarbeiterin?
Als Fachkräfte der Sozialen Arbeit haben wir oft kein einheitliches Verständnis von Altenhilfe und Seniorenarbeit. Es steht außer Frage, dass die Arbeit mit älteren Menschen Zukunft hat, wenn wir die demografische Entwicklung betrachten. Wir befinden uns mitten in der alternden Gesellschaft. Das Selbstverständnis alter Menschen hat sich deutlich verändert.
Schauen wir zunächst auf die Übergänge, die für Menschen jenseits der 60 gelten:
- Übergang in das Rentenalter
- Übergang in das hohe Alter
- Übergang in das hochbetagte Alter
Es mag uns leicht fallen, den Eintritt von Pflegebedürftigkeit, die Steigerung hin zu schwerer Pflegebedürftigkeit und Demenz als Problemfelder zu definieren. Handlungsfelder für die Soziale Arbeit sind in allen „Stufen“ vorhanden: Beratung und Gruppenarbeit mit pflegenden Angehörigen, Schulungen ehrenamtlicher Betreuer:innen, Biografiearbeit in der Seniorengruppe usw.
Das Altsein an sich ist nicht ein Problem. Der Mangel ist das, was wir „brauchen“, um als Sozialarbeitende zu agieren. Es muss quasi eine Notwendigkeit oder Förderbedürftigkeit gegeben sein.
Während wir darüber nachdenken, treffen wir auf die „agilen Alten“:
Selbst organisierte Seniorengruppen, Wohnkollektive, Ältere im Bildungssektor, Aktive im Antifaschismus oder Umweltschutz. Hier binden sich viele Menschen zusammen, die für ihre Interessen handeln und Gesellschaft verändern möchten. Es sind die Alten, die nicht als Problemfall „behandelt“ werden möchten. In ihrem Selbstverständnis gehören sie längst nicht zum „Alten Eisen.“ In vielen Fällen sind dies aber auch die Älteren, die über mehr materielle Möglichkeiten verfügen und weniger von Altersarmut betroffen sind.
In diesem Spagat bewegt sich auch die Fachkraft der Sozialen Arbeit. Die Infrastruktur der Altenhilfe wird erst spät errichtet und damit die Verortung der Disziplin. Vielleicht liegt daher der geringe Reiz dieser Arbeit verborgen.
Mit der Einführung des § 75 BSHG im Jahr 1962 kam die sozialwissenschaftliche Forschung zum Ergebnis, Hilfen für alte Menschen gesetzlich zu regeln. Seit den 80er Jahren kam es zu weitreichenden Veränderungen bis zum § 71 im SGB XII (Dezember 2003). Die Verhütung, Überwindung und Milderung von Schwierigkeiten, die durch das Alter entstehen, sind wichtige Gesetzesnorm. Es geht bis zum Anspruch auf Leistungen, die zur Vorbereitung auf das Alter dienen.
Und so finden sich in Bürgerzentren, Volkshochschulen, Seniorenbüros und Bildungseinrichtungen sozialpädagogische Fachkräfte in eigens für Senioren geschaffenen Abteilungen. Für die Stadtplanung und das Quartiersmanagement wird ihre Expertise benötigt.
Ein eigenständiges Leistungsrecht wie in der Jugendhilfe existiert bis heute nicht. Noch zu wenig findet mit und für ältere Menschen Lobbyarbeit statt. Es mag uns anders erscheinen, wenn wir auf die „jungen Alten“ blicken, die präsent sind und Veränderungen forcieren. Aber der Schein trügt.
Für eine konsequentere Einbeziehung Sozialer Arbeit in den politischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen ist Potenzial vorhanden. Es bedarf hier noch mehr an Durchsetzungsvermögen und einer stärkeren Stimme für die Interessen und Teilhabe alter Menschen.
Ein Beispiel für Innovation: das Domino CoachingTM-Pflegeverfahren
Bei meinen Vorbereitungen zu diesem Dossier bin ich auf einen interessanten Coaching-Ansatz gestoßen, der speziell für Senior:innen entwickelt wurde:
Das Domino-coachingTM-Pflegeverfahren. Ich möchte dies gerne vorstellen, da es viele Aspekte der Teilhabe älterer Menschen tangiert. In seiner Haltung wirkt der Ansatz sehr progressiv.
Es wurde aus dem gemeinnützigen Verein Domino-world und der domino-Coaching Stiftung entwickelt. Das Domino-Coaching stammt aus der Rehabilitation und soll dazu beitragen, dass sich Senioren in Pflegeheimen weniger abhängig fühlen. Mithilfe von Coaches, die wie „personal trainer“ eingesetzt werden. Das Personal stammt aus der Pflege und wird mindestens ein halbes Jahr lang geschult. Das Modell wird zudem in Pflegeschulen gelehrt.
Mit dem Trainingsprogramm wird sich an Zielen orientiert, die die Senioren selbst setzen.
Ein Beispiel:
Eine Seniorin möchte einmal pro Woche zum Treffen ihres Lesevereins in ihrem Ort. Sie ist mobil mit dem Rollator, traut sich aber wegen ihrer Gangunsicherheit nicht, alleine Taxi zu fahren. Da keine andere Assistenz möglich ist, kommt sie zur Zielformulierung, künftig alleine mit dem Taxi zu ihrem Verein zu fahren.
Im Kontext des Coachings ist sie keine Hilfebedürftige, sondern eine Kundin. Sie wird nicht nur mobilisiert, sondern bekommt einen individuellen Trainingsplan, ein geriatrisches Assessment und ein eigenes Profil. Sie erhält Übungsempfehlungen und arbeitet in Teilschritten an ihrem Ziel. Für Rückschläge und Motivation hat der Coach professionelle Möglichkeiten zur Hand. Die Fachkraft selbst profitiert von diesem Ansatz der Zukunft und wird entlastet.
Hier haben wir mehrere Aspekte im Fokus:
- Blickrichtung hin auf das Potenzial, nicht auf den Mangel
- Weniger Arbeitsbelastung für die Pflegenden
- Erhaltung von Mobilität
- Prävention und Sturzprophylaxe
- Partizipation und Verantwortlichkeit für die eigene Gesundheit
- Aktivierung und Ermöglichung von Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
Es ist in diesem Sinne nicht egal, wenn die betreffende Dame zu Hause bleibt oder in der Einrichtung, anstatt ihren Verein zu besuchen. Nicht für sie persönlich und nicht für die Angehörigen oder beruflich Pflegenden.
Dieses Modell zeigt -hier aus dem Bereich der Pflege-, dass Innovationen möglich sind. Und viele weitere Ideen sind vorhanden und warten auf ihr Startsignal – auch aus der Sozialen Arbeit heraus.
Das älter werdende Ehrenamt und die Berufsethik Sozialer Arbeit
Bei der Vielfalt von Lebenswelten älterer Menschen haben diese auf jeden Fall eines gemeinsam: ihre Rechte.
Laut dem Siebten Altenbericht (Bundesregierung 2016) haben sie es in zweierlei Hinsicht:
- Sorge zu bekommen
- Selbst Sorge zu tragen
Die Geragogik folgt dem Anspruch des lebenslangen Lernens. Sie ist das Antonym zur Frühpädagogik, der Wissenschaft zur Entwicklung, Bildung und Erziehung des Kindes in den ersten Lebensjahren. Die Geragogik fördert die Bildung und Partizipation älterer Menschen. Sie befähigt zum Verständnis von Demokratie, Diversität und Teilhabe. Lernen, Begegnen und Spielen sind wichtige Elemente in der Seniorenarbeit, der ambulanten und stationären Altenhilfe. Gerade im Spiel ist es wichtig, Methoden und Materialien auszuwählen, die zu älteren Menschen passen.
Ein mitgebrachtes Memory der Tochter mit Disney-Figuren bildet kaum die Lebenswelt einer Senior:in ab, sie kennt womöglich die Charaktere gar nicht. In vielerlei Hinsicht gilt hier häufig: „Gut gemeint ist nicht gut gemacht“.
Sorge tragen aber auch die Ehrenamtlichen, die selbst immer älter werden, aber rüstig genug, ihr Wissen und Lebenserfahrung weiterzugeben. Es geht nicht nur darum, das hauptamtliche Feld zu stützen, Kaffee zu kochen und einen Fahrdienst einzurichten. Ehrenamt und ältere Menschen haben den Anspruch an sich und das Hilfesystem, in dem sie wirken, eigene Gestaltungsräume und Lernfelder zu erschaffen. Viele ältere Menschen sehen sich als Senior-Expert:innen und entwickeln ein neues Selbstbewusstsein nach Beendigung ihrer Familien- und Erwerbsarbeit. Ein großer Teil möchte der drohenden Vereinsamung entgegenwirken.
Von einer gründlichen standardisierten Einarbeitung (nach einem Auswahlverfahren), verlässlicher Begleitung und Supervision profitieren alle Beteiligten. Hier spielen Fachkräfte der Sozialen Arbeit eine wichtige Rolle. Für das hauptamtliche Fachpersonal, aber auch für die Ehrenamtlichen untereinander, ist die (Zusammen)arbeit oft herausfordernd.
Sozialarbeiter:innen und Sozialpädgog:innen erleben gerade in ihrem Sektor den Generationenwandel: Die „Boomer“ gehen in den Ruhestand – ganze Abteilungen müssen neu besetzt werden. Neues Personal und auch das Ehrenamt werden gebraucht, um Angebote insbesondere im Sozialraum aufrechtzuerhalten. Es herrscht Sparzwang.
Gleichzeitig kann daraus ein überhöhtes Selbstbewusstsein einiger Älterer erwachsen („Die brauchen mich, sonst können sie das Angebot nicht halten“). Selbstreflexion ist oft nötiger als vorhanden, wenn man Senior-Expert:in ist und vielleicht nicht nachvollziehen kann, warum der/die Sozialarbeiter:in nicht genug Geld hat für Neuanschaffungen im Seniorentreff.
In der Arbeit mit dem Ehrenamt oder als Ehrenamtler selbst, besteht eine große Chance zur Teilhabe. Projekte im Sozialraum entfalten ein ganz anderes Potenzial, wenn viele unterschiedliche Menschen zusammenkommen. Es findet intergenerationelles und interkulturelle Lernen statt, was unsere Demokratie und Gesellschaft nachhaltig bereichern kann.