„Innovatitis" und „Projektitis" statt koordinierter und nachhaltiger Suchtprävention?
Gemischte Bilanz nach dem 12. Berliner Suchtgespräch: „Wir hatten (fast) alle an Bord! - Suchtgespräch mit Weckrufcharakter?
Seit eineinhalb Jahren ist das Präventionsgesetz in Kraft. Es nimmt mit den Gesundheitszielen „Alkoholkonsum reduzieren“ und „Tabakkonsum reduzieren“ auch die Suchtprävention klar in den Blick. Über das bisher Erreichte diskutierten Ende November Expertinnen und Experten, Fachkräfte, Vertreterinnen und Vertreter aus Politik und Forschung sowie von Seiten der Leistungsträger beim 12. Berliner Suchtgespräch. Die Veranstaltung unter dem Titel „Wir brauchen alle an Bord! – Eineinhalb Jahre Präventionsgesetz und die Auswirkungen für die Suchtprävention“ stand unter der Schirmherrschaft der Bundesdrogenbeauftragten Marlene Mortler. Maria Becker, Unterabteilungsleiterin „Prävention“ im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) überbrachte das Grußwort.
Markante Impulse für das Gespräch setzten Gabriele Bartsch, stellvertretende Geschäftsführerin der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen, Dr. Volker Wanek, Fachreferent Prävention und Gesundheitsförderung des Gesetzlichen-Krankenversicherung-Spitzenverbands (GKV) und Wolfgang Schmidt-Rosengarten, Geschäftsführer der Hessischen Landesstelle für Suchtfragen.
Es schloss sich eine fachlich fundierte und kontroverse Podiumsdiskussion an, die Dr. Tomas Steffens, von der Diakonie Deutschland moderierte. Dr. Wanek antwortete auf die Frage nach den aktuellen Baustellen, vielerorts bestehe noch „Projektitis“, eine Hauptaufgabe sei es aber, die Beantragung einer Vielzahl kleiner Projekte ohne gemeinsame Strategie, durch eine kommunal verankerte, ressortübergreifend koordinierte und nachhaltige Prävention insbesondere für sozial benachteiligte Zielgruppen zu ersetzen.
Die Mitglieder der Nationalen Präventionskonferenz hatten mit den Bundesrahmenempfehlungen zur lebensweltbezogenen Prävention vom Februar 2016 die Weichen in diese Richtung gestellt und die GKV weite ihr Engagement auf dieser Grundlage deutlich aus. Gleichzeitig erwarte sie, dass auch die übrigen Verantwortlichen in Ländern und Kommunen ihr Engagement verstärken.
Als Landesreferentin Sucht der Diakonie Württemberg wünscht sich Birgit Wieland, dass aus dem Gesetz der Nichtbeteiligung ein Beteiligungsverfahren wird, das sich vor allem durch Transparenz auszeichnet. Die diakonischen Einrichtungen haben einen großen Erfahrungsschatz bei der Umsetzung evaluierter und erfolgreicher Konzepte und erwarten, dass darauf zurückgegriffen wird und sie mit ihrer Expertise einbezogen werden. Auch als Sprecherin des GVS Fachausschuss Suchtprävention und betriebliche Gesundheitsförderung bot Wieland die aktive Zusammenarbeit an, da hier vielfältige Kompetenzen und Ansprechpartner gebündelt seien.
Schmidt-Rosengarten beschrieb die großen Hoffnungen, die mit den in Aussicht gestellten Inhalten und Veränderungen durch das Präventionsgesetz verknüpft waren. Er und seine Kollegen und Kolleginnen in den anderen Bundesländern erlebten stattdessen eine große Intransparenz bei den anstehenden Umsetzungsschritten sowie zum Teil größere Unstimmigkeiten bei den beteiligten Organisationen. Wie viele Mittel letztlich für die Suchtprävention zur Verfügung stehen, ist ebenfalls unklar.
Auch das aus Sicht der Suchtprävention innovativste Element im neuen Präventionsgesetz, die kassenartenübergreifenden Maßnahmen, scheinen seiner Ansicht nach immer noch in weiter Ferne. Für ihn blieb nach 18 Monaten die ernüchternde Erkenntnis, dass von einer übergeordneten Planung oder abgestimmten Präventionskonzepten auf Länder- bzw. kommunaler Ebene noch keine Rede sein kann. Derzeit liefe in der Suchtprävention alles noch so wie gehabt, abgesehen von, durch das Präventionsgesetz ermöglichten, zusätzlich ausgeschütteten Mitteln durch die einzelnen Kassen.
Randolph Pleske, Abteilungsleiter der Fachstelle für Sucht und Suchtprävention im Diakonischen Werk Hannover, sah den Top-Down-Ansatz als ein grundlegendes Problem dafür, dass das Präventionsgesetz die Basis nicht erreicht. Gleichzeitig kranke es an dem Versäumnis, an strukturelle Förderung zu denken. Schmidt-Rosengarten pflichtete ihm direkt bei und erweiterte den von Dr. Wanek eingebrachten Begriff der „Projektitis“ um den der „Innovatitis“, die das Präventionsgesetz in den letzten Monaten provoziert hätte. Er plädierte dafür, den im Gesetz formulierten Settingansatz neu zu denken und der Prävention im Setting mehr Bedeutung – und damit auch Förderung – zukommen zu lassen.
Dr. Harald Terpe, MdB, drogen- und suchtpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, beschrieb das Verfahren der Gesetzgebung zum Präventionsgesetz als Zangengeburt. Für ihn hätten sich bereits frühzeitig Fallstricke abgezeichnet, wie zum Beispiel dass weder die Spitzenverbände der Kommunen oder die Rentenversicherung im laufenden Verfahren einbezogen waren und auch die Investition staatlicher Steuermittel in die Gesundheitsförderung ausgeklammert wurde.
Wer sich nicht an der Finanzierung von Prävention beteiligt, von dessen Seite werde jetzt die Aktivität in der Umsetzung des Gesetzes und dessen Zielen nicht explizit erwartet werden können. Selbst bei Tabak und Alkohol, die beide auf der Liste der Gesundheitsziele aufgenommen wurden, hätte man versäumt, zu Ende zu denken, welche Präventionsleistungen dabei konkret einbezogen werden – z.B. eben auch die Präventionsprojekte, die seit Jahrzehnten bereits erfolgreich laufen. Basis und Ziele müssten koordiniert werden, um daraus konkrete Empfehlungen jenseits der derzeitigen verworrenen, nebelhaften Vorstellungen über die Umsetzung des Präventionsgesetzes zu generieren.
Im Rahmen des Veranstaltungsreümees warb Dr. Wanek für Verständnis, dass man die Umsetzung eines Gesetzes zur lebensweltbezogenen Gesundheitsförderung und Prävention mit einer Vielzahl Zuständiger und Beteiligter nicht „wie einen Lichtschalter“ anknipsen kann und eine realistische Bilanz daher erst in einigen Jahren möglich sei. Er sah den kommunikativen und partizipativen Ansatz von „Bottom Up“ als erfolgversprechenden Weg, bestehende Differenzen und Missverständnisse auszuräumen.
Gleichzeitig betonte er, dass Krankenkassen auch in Zukunft nicht die Finanzierung kommunaler Suchtberatungsstellen übernehmen können, jedoch einer leistungsbezogenen Vergütung suchtpräventiver Aktivitäten in diesem Rahmen nichts im Wege stehe.
Dr. Terpe wies abschließend darauf hin, dass der Settingansatz im Präventionsgesetz nicht einer reinen Gesundheitspolitik entsprechen dürfe, sondern die Gesellschaftspolitik zwingend einbeziehen müsse. Nur wenn die Suchtprävention zukünftig auf eine strukturelle Förderung zurückgreifen könne, würden die Suchtberatungsstellen mit ihrer Erfahrung und Expertise mittelfristig die Suchtprävention weiterhin leisten können, stellte Wieland fest.
Für das Publikum war die auffällige Meinungsvielfalt der Referentinnen und Referenten, die kontroverse, und zugleich wertschätzende und als konstruktiv empfundene Diskussion auch nach der Veranstaltung noch Anlass für Gesprächsbedarf.
Fazit des Veranstalters: Wenn das 12. Berliner Suchtgespräch zum Nachdenken und zum weiteren Austausch zwischen den an der Umsetzung Beteiligten mit ihren je eigenen Blickwinkeln auf das Präventionsgesetz beitragen konnte, ist es dem Wunsch – alle an Bord zu bekommen – ein stückweit näher gerückt.
Quelle: Pressemitteilung des Gesamtverbandes für Suchthilfe vom 8. Dezember 2016