Nächstes Jahr wird alles teurer
Eine Musterschülerin sei sie gewesen, sagt Frau Brückner. Über gute Zensuren habe sie Anerkennung bekommen. Zumindest in der Schule, die Eltern haben sich weniger dafür interessiert. Wie sie es geschafft hat, immer ihre Schulsachen in Ordnung zu halten, weiß sie gar nicht mehr so genau. Vom Pfandgeld jedenfalls hat sie sich keine Süßigkeiten gekauft, sondern Buntstifte und Hefte und gespart hat sie, für den Fall, dass ein Wandertag ansteht und die Eltern kein Taschengeld übrig haben. Diese Anerkennung über Leistung habe sie durch die Kindheit gerettet und als Erwachsene fast umgebracht. Naja, zumindest ins Burnout, in die Klinik und da habe sie Selbstfürsorge gelernt. Und jetzt macht sie mit ihrem Sohn Sachen, die sie nie wollte. Sie hat es nicht mal gemerkt, bis der 10-Jährige meinte: „nächstes Jahr wird alles teurer, für ne 1 verlange ich dann mindestens 50 Euro und die Hausaufgaben mach ich auch nicht mehr umsonst“. Und er hat dabei keine Miene verzogen.
Es fing ganz harmlos an, mit dem Geld für gute Noten. Der Junge war sowieso neugierig und das Lernen fiel ihm leicht. Warum sollte sie ihn nicht belohnen, für seine Erfolge? Erwachsene bekommen ja auch Prämien, und fordern gutes Geld für gute Arbeit. Dieser Punkt stand auch nie zur Diskussion zwischen Frau Bruckner und ihrem Mann und so kam es, dass Marvin nach der Trennung der Eltern eine ganze Weile von beiden belohnt wurde. Er war für sein Alter sehr selbstständig und konnte die alltäglichen Wege von den Wohnungen der Eltern und der Schule und zu seinem besten Freund alleine erledigen und genoss den finanziellen Vorteil, den er nun hatte und außerdem: dass der Streit endlich vorbei war.
Irgendwann haben Vater und Mutter dann wieder miteinander geredet und sich abgesprochen, was die Urlaube und die Feiertage anging und auch über Alltag und Schule – und sie haben die Geldbeiträge einfach halbiert. Das fand Marvin dann gar nicht mehr lustig und prompt schrieb er die erste Fünf. Und dann ging es weiter mit der Abwärtsspirale, wie Frau Brückner das nennt. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich auch, denn sie fühlte sich schuldig, wegen der Trennung, und sie glaubte dem Jungen damit geschadet zu haben. Aber Marvin meinte: „Nein!“, mit der Trennung habe das gar nichts zu tun. Das sei doch normal. In seiner Klasse würden genau drei Kinder bei den leiblichen Eltern aufwachsen. Alle anderen würden an den Wochenenden auf Wanderschaft gehen - naja nicht alle, aber die meisten, hat er behauptet. Das sei zwar auch manchmal anstrengend, aber mit den Noten habe das gar nichts zu tun.
Am neuen Lehrer würde es liegen. Mit Frau Patzwall sei er gut klargekommen, dass sie dann plötzlich weg war, habe er nicht verkraftet und der Neue sei unerträglich, der würde die Mädchen vorziehen und die Jungs haben bei ihm keine Chance, sagt Marvin.
Jetzt, wo wir am Küchentisch sitzen, schimpft er und flucht und dann plötzlich weint er. Die Mutter weint auch und erzählt wie schwer sie es hatte als Kind, und dann mit den Männern und ich denke, das gehört ja nun gar nicht hier her, hoffe auf eine Atempause, aber die kommt nicht, und ich unterbreche sie barsch. Sage, dass wir für ihre Lebensthemen einen Einzeltermin machen können und hoffe, dass ich es irgendwie schaffe, den Termin gut zu beenden. Schließlich sagt sie, dass sie ja nur das Beste für den Sohn will und dass sie ihn lieb hat und dann liegen sie sich in den Armen. Ich weiß, dass ihr die Wertschätzung fehlt, wir hatten das Thema schon mal, aber sie kann ja nicht von ihrem Sohn etwas erwarten, was sie als Kind von den Eltern gebraucht hätte und was sie später auch in den Partnerschaften nicht bekam. Ich denke, sie weiß das. Aber bis das Kopfwissen gelebt wird, braucht es dann doch mehr Zeit.
Ihre Katja Änderlich