Neue Wege in der Musiktherapie
In einem Pilotprojekt erlernen Patienten der Kraichtal Kliniken in Baden-Württemberg im Rahmen der Musiktherapie Instrumente – ohne Noten und mithilfe von Lern- und Erklärvideos. Das Ziel: Selbstvertrauen aufbauen, Lebensfreude vermitteln und die heilende Kraft der Musik in ihren Alltag integrieren. Kann das funktionieren?
Ann-Katrin (21) und Dimitri (51) haben etwas gemeinsam: den täglichen Kampf gegen sich selbst und die Freude an der Musik. Sie leidet unter Depressionen und dem Borderline-Syndrom. Er ist glückspielsüchtig. Beide sind derzeit Patient*innen der Kraichtal Kliniken, die sich auf die Behandlung suchtkranker Frauen und Männer spezialisiert haben. Das Spektrum reicht von Alkohol-, Drogen- oder Kaufsucht bis hin zu Medien- und Internetsucht und auch Essstörungen sowie Burnout. Die drei Standorte – Münzesheim, Oberacker im Kraichgau und Heidelberg – bieten insgesamt 144 stationäre und 14 ganztägig-ambulante Therapieplätze. Das Alter reicht von 18 bis 60 Jahren. Gemeinsam mit Therapieexpert*innen arbeiten sie daran, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Rund 90 Prozent werden über eine Suchtberatungsstelle eingewiesen. Ein Aufenthalt in den Kraichtal Kliniken dauert je nach Fall sechs bis 26 Wochen, im Durchschnitt rund drei Monate. Finanziert werden die Klinikaufenthalte in der Regel von der Rentenversicherung, die ein Interesse daran hat, die Patient*innen wieder auf den Arbeitsmarkt zurückzuführen. In Einzelfällen auch von der Krankenkasse.
„Einen großen Anteil nimmt die Arbeitstherapie ein", sagt Dr. Sven Seilkopf, Chefarzt der Kraichtal-Kliniken und selbst passionierter Musiker und Band-Leader der Gruppe Los Promillos, die sich aus ehemaligen Patient*innen, Freund*innen und Mitarbeitenden zusammensetzt. „Mit hauseigenen Werkstätten, wie der Schlosser- und Schreinerei, führen wir unsere Patient*innen wieder sukzessive an Arbeitsprozesse heran." Ein asiatischer Garten, Spielplätze und Tierparks, die ebenfalls Teil der Kliniken und zu Nicht-Corona-Zeiten für die Öffentlichkeit zugänglich sind, werden ebenfalls von den Patient*innen in Schuss gehalten. Neben tiergestützter, Bewegungs- und Gestaltungstherapie, wie Töpfern, Korbflechten oder malen, nimmt die Musiktherapie eine Sonderrolle ein. Der gezielte Einsatz von Musik, gemeinsames Singen, freie Improvisationen oder musikalische Rollenspiele sollen die seelische, körperliche und geistige Gesundheit der suchtkranken Menschen verbessern. „Einigen Patient*innen fällt es schwer, ihre Gefühle in Worte zu fassen. Musik ist eine Sprache, die jeder versteht und die Möglichkeit bietet sich auf andere Art und Weise auszudrücken und Blockaden zu lösen", sagt der Oberarzt und Leiter der Psychosomatischen Fachklinik Dr. Arne Zastrow.
Ein niedrigschwelliger Zugang zum Musizieren
Die wöchentlich 45 Minuten Gruppen-Musiktherapie sind für alle Patient*innen verpflichtend. Initiator ist Walter Seitz, Musiktherapeut, Autor und Verleger zahlreicher Bücher und CDs. Er beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Musik- und Entspannungstechniken. In dem gemeinsamen Pilotprojekt mit den Kraichtal Kliniken entwickelte er ein Konzept, das die Ansätze der klassischen Musiktherapie erweitert und sich auf andere Klinken übertragen lässt. Die Idee dahinter: Mit überschaubarem Aufwand für die Musiktherapeut*innen und realisierbaren Ausgaben für die Kliniken, einer möglichst großen Anzahl an Patient*innen einen einfachen Zugang zu einer großen Auswahl an Instrumenten zu bieten. Im Angebot sind aktuell neun Instrumente: Ukulele, Gitarre, Klavier, Keyboard, Mundharmonika, indianische Flöte, Akkordeon, Handpan und Trommel – E-Bass soll demnächst dazukommen. Die Teilnehmer*innen können die Instrumente während des gesamten Aufenthaltes jederzeit beliebig aus- und durchprobieren und zum Üben ausleihen.
V.l.n.r.: Patientinnen mit Musiktherapeut Walter Seitz (Foto: Steffen Bäuerle)
„Die Herausforderung besteht darin, die Patient*innen in kürzester Zeit für Musik zu begeistern und ihnen einen sofortigen Zugang zu einem Instrument zu bieten. Schnelle Erfolgserlebnisse sind wichtig für das Selbstbewusstsein und die Motivation", so Seitz. Damit das gelingt, hat er ein Konzept ausgearbeitet, das auf einem Zahlensystem beruht („Spielen nach Zahlen"). Mit diesem können die Patient*innen, ohne Notenlesen, schon nach den ersten Lerneinheiten einfache Melodien spielen. Ob jemand bereits Erfahrung hat, musikalisch ist oder nicht, spielt dabei keine Rolle. „Druck und Perfektion sind bei der Musiktherapie sowieso fehl am Platz", betont Seitz. Ein Beispiel ist Dimitri, der sich für das Trommeln entschieden hat. Vor seiner Einweisung hatte er mit Musik nicht viel zu tun und bezeichnet sich selbst als unrhythmisch. „Manchmal habe ich griechische Musik gehört – aber das war's auch schon", sagt er. Die Musiktherapie nach der Methode Seitz habe ihm einen unerwarteten Zugang zur Musik eröffnet. Das tue ihm gut und mache ihm Spaß. Ob er mal einen Fehler mache, das interessiere hier niemanden. Vielleicht werde er nach seiner Entlassung mit dem Trommeln weitermachen. „Aber ganz sicher werde ich ein Konzert besuchen", freut er sich. „Auf diese Idee wäre ich vorher nie gekommen."
Individuellen Lernprozessen Raum geben
"Es muss nicht immer ein Widerspruch sein, Patient*innen innerhalb einer Therapie zu etwas zu verpflichten", sagt Zastrow. Sicher gäbe es hin und wieder Vorbehalte gegenüber Musiktherapie, doch einige entdecken neue Talente und Spaß an Dingen, die sie zuvor nie in Betracht gezogen hätten. „Es kostet sie Überwindung. Viele haben zuvor noch nie ohne Alkoholeinfluss gesungen. Hier erleben sie, dass das auch geht und sogar Spaß macht", weiß Daniel Nakhla, Psychologe und therapeutischer Leiter der Kraichtal Kliniken. „Viele Patient*innen genießen das Gemeinschaftserlebnis in der Musiktherapie, doch nicht allen fällt das Spielen vor anderen Teilnehmer*innen leicht." Gerade Männern sei Singen oder Musizieren oftmals peinlich. Doch Einzelstunden sind in den Kliniken aus finanziellen und zeitlichen Gründen nicht möglich.
Eine Lösung wurde im Rahmen des Pilotprojekts erarbeitet. Um Patient*innen individuell und kontinuierlich bei ihrem persönlichen Lernprozess begleiten zu können, entwickelte Seitz speziell für die Teilnehmer*innen der Musiktherapie kurze, aufeinander aufbauende Erklärvideos: Für jedes Instrument und vom Anfangenden bis zum Fortgeschrittenen. Je nach Entwicklung bekommen sie die nächste Schwierigkeitsstufe zugesandt. Die Module lassen sich jederzeit für neue Patient*innen wiederverwenden. Fragen oder Unklarheiten beim Üben, nehmen die Teilnehmer*innen per Video auf und senden dieses per Smartphone an den Therapeuten. Dieser schaut sich das Problem an und antwortet ebenfalls per Video mit der Lösung. „Die Methode funktioniert, die Erfolge sind sichtbar und gerade Männer, die in der Gruppe der Musiktherapie zurückhaltend waren, nehmen das Angebot wahr, blühen auf und machen am Instrument Fortschritte", so Nakhla. Der Musiktherapeut hat mit den wiederverwendbaren Erklärvideos die Möglichkeit, mehrere Patient*innen mit überschaubarem Aufwand persönlich und selbst aus der Ferne parallel zu betreuen und das Lerntempo individuell anpassen.
Ressourcen (wieder)entdecken
Auch Ann-Katrin ist begeistert. Sie spielte bereits vor ihrem Aufenthalt Gitarre und sang. Ihrer ersten klinischen Musiktherapiestunde stand sie kritisch gegenüber. „Musik hat mir in schwierigen Zeiten geholfen zu überleben. Mit ihr kann ich meine Gefühle verarbeiten, mich von negativen Gedanken ablenken." Doch aufgrund der Depressionen habe sie in den vergangenen zwei Jahren das Musikmachen aufgegeben. Durch die Musiktherapie habe sie wieder zur Musik zurückgefunden. Den Ausschlag gab die positive Atmosphäre während der Musiktherapie-Sessions. „Die reißt alle Teilnehmer*innen mit, man kommt aus sich heraus. Musiktherapie ist das Highlight der Woche. Man merkt, dass Herr Seitz seinen Job lebt und liebt", sagt sie. Eine alkohol- und drogenabhängige Patientin berichtet, dass sie ihre erste Musiktherapiestunde emotional so bewegte, dass sie „Rotz und Wasser" heulte. Schon Jahre habe sie nicht mehr einen derartigen Glücksmoment erlebt.
Sie ist im Haus Kraichtalblick, Standort Oberacker, einer reinen Frauenklinik untergebracht, in der suchtkranke Mütter die stationäre Langzeitentwöhnung gemeinsam mit ihren bis zu 6 Jahren alten Kindern absolvieren können. Dort habe sie in der Therapie das Klavierspielen, ein langersehnter Kindheitstraum, angefangen. Sie übt regelmäßig und sagt: „Dabei vergisst man alle anderen Gedanken. Und allein das ist es wert." Ihr Aufenthalt endet in wenigen Tagen und bereits jetzt habe sie sich für die Zeit danach für Klavierunterricht angemeldet. Eine Mitpatientin berichtet, dass ihr Ehemann bereits für ihre Rückkehr nach Hause eine Ukulele gekauft habe, damit sie dort gleich weitermachen könne. Für die rund 40 Patient*innen im Haus Kraichtalblick ist die Teilnahme an der Musiktherapie zwar freiwillig, doch bereits jetzt beteiligen sich rund 40 Prozent – Tendenz steigend. Gemeinsam üben und proben sie für Auftritte. Das letzte große Grill-Fest mit Gesang- und Musik-Shows fand kurz vor Ostern statt. „Das Hinarbeiten auf ein Ziel wie Aufführung gibt den Patient*innen einen enormen Schub an Selbstvertrauen. Im Prinzip geht es immer um eines: Lebensfreude", sagt Seitz.
Rückkehr in den Alltag
Doch wie geht es nach dem Therapieaufenthalt weiter? „Hier in den Kliniken sind die Patient*innen abgeschirmt, werden betreut und sind mit Behandlungsangeboten beschäftigt. Dann kommen sie in die Realität zurück. Meistens hat sich draußen nicht viel verändert und die Schwierigkeiten, wie Arbeitsplatz- oder Familienprobleme gibt es immer noch", so Seilkopf. Die erste Anlaufstelle nach der Reha sind in der Regel wieder die Suchtberatungsstellen. Es beginnt eine sogenannte Nachsorgebehandlung, die ebenso von der Rentenversicherung finanziert wird und zumeist aus regelmäßige Gruppen- oder auch Einzelsitzungen besteht. Zumeist über ein halbes Jahr oder ein Jahr. Sie soll die Patient*innen stabilisieren und ihnen helfen, das in der Therapie Erarbeitete in den Alltag zu transferieren und dort umzusetzen. „Die Anfälligkeit für eine Suchterkrankung oder Depression bleibt ein Leben lang. Die Rückfallquote liegt bei rund 50 Prozent", so Seilkopf. Die bisherigen Erfolge des Pilotprojekts stimmen zuversichtlich, dass zumindest ein Teil der Patient*innen die positive und heilende Wirkung des Musizierens über ihren Klinikaufenthalt hinaus, in ihren Alltag integrieren wird. Gleich, ob sie durch die neue Art der Musiktherapie das Musikmachen wie Dimitri neu für sich entdeckten, oder wie Ann-Katrin zu ihrem Instrument zurückfanden. Im Asiatischen Garten nimmt sie spontan ihre Gitarre, setzt sich auf einen Tisch neben dem See und stimmt ein selbstgeschriebenes Lied an. Der Titel: Emotions". „I'll be good and I'll be great and one day I will have it made", singt sie. Freiübersetzt: Eines Tages wird es mir gut gehen, ich werde mich großartig fühlen und werde es geschafft haben. Sie lacht und ist glücklich.