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Selbstvertreter*innen warnen vor einer De-Priorisierung von Menschen mit Behinderung

Die Coronakrise wirft extrem schwierige Fragen auf: Wie handeln beispielsweise Krankenhäuser, wenn zwei beatmungspflichtige Menschen eingeliefert werden, aber nur ein Beatmungsgerät verfügbar ist? Aus Sicht von Interessenverbänden von Menschen mit Behinderung gibt es immer noch keine zufriedenstellende Klärung dieser Frage. Sie befürchten eine "De-Priorisierung aufgrund von Behinderung" und haben eine eindringliche Erklärung formuliert. Die Entscheidung dürfe nicht allein Mediziner*innen überlassen werden.

Angesicht einer laut Epidemiologen bevorstehenden deutlichen Zunahme an 'schweren Verläufen' mit intensivmedizinischem Betreuungsbedarf drängen sich ethische Fragen auf, vor deren Beantwortung niemand gerne gestellt sein möchte. Und doch zeigen die Entwicklungen in Italien, Frankreich und Spanien, dass Ärzt*innen in der Coronakrise auch in Deutschland notgedrungen Auswahlentscheidungen werden treffen müssen. Diese finden in einer sogenannten 'Triage' statt. Dr. Sigrid Arnade von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL) und H.-Günter Heiden vom Netzwerk Artikel 3 – Verein für Gleichstellung und Menschenrechte Behinderter e.V. (NW3), sind in großer Sorge, dass Ärzt*innen im Zweifel gegen die Lebensperspektiven von Menschen mit Behinderung entscheiden werden.

Die Erklärung im Wortlaut:

„Eine 'medizinische Triage' also eine Vorrangentscheidung auf dem Hintergrund fehlender Ressourcen, kann in einer akuten Krisensituation notwendig sein, etwa bei der Bergung und Behandlung von Verletzten nach einem Flugzeugabsturz, nach einer plötzlichen Naturkatastrophe, etc. Die Frage ist jedoch, ob dies auch bei der COVID-19-Pandemie so sein muss, da eine „Triage“ auf den historisch geschaffenen und aktuell vorhandenen medizinischen Ressourcen beruht. In einer Gesellschaft, die beispielsweise umfangreich in Intensivmedizin investiert hat, wird dies anders aussehen als in anderen Gesellschaften.

Die Überlegungen zu einer „Triage“ sind insofern vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren verschärften Ökonomisierung des Gesundheitswesens in Deutschland und dem bekannten „Pflegenotstand“ zu betrachten. Empfehlungen und Kriterien zur Verteilung von Ressourcen für den Notfall können sinnvoll sein. Jegliche  Empfehlungen müssen dabei an den Menschenrechten, insbesondere an Artikel 11 der UN-Behindertenrechtskonvention, und an der Verfassung (Artikel 3) orientieren, wie auch der Deutsche Ethikrat und das Deutsche Institut für Menschenrechte fordern.

Es stellt sich jedoch die Frage, wer berechtigt ist, entsprechende Empfehlungen und Kriterien aufzustellen. Die Legitimität der „Fachgesellschaften“ erscheint uns dabei mehr als fraglich. Deren Empfehlungen können als ein „Aufschlag“ Teil des Diskurses sein, mehr aber auch nicht. Die Politik kann und darf sich nicht aus dieser Verantwortung zurückziehen. Sie darf die Abwägung ethisch hoch brisanter Fragen nicht den  Fachgesellschaften überlassen. Vielmehr ist eine breite Diskussion und eine Einbindung der Selbsthilfe- und Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen unbedingt erforderlich.

Das Konzept des Ableismus, also der vorgefertigten schubladenartigen Vorstellungen von Behinderung und behinderten Menschen, war offensichtlich beim Verfassen der vorgeschlagenen Empfehlungen im Hintergrund wirksam und wird es auch bei deren Umsetzung werden. Im Ernstfall, der schnelle ethische Entscheidungen in einer Dilemma-Situation erfordert, werden vermutlich durchaus Entscheidungen getroffen, die auf einer vermeintlichen „Lebenswert“ – „Nicht Lebenswert“-Alternative beruhen. So ist eine De-Priorisierung aufgrund von Behinderung zu befürchten, wodurch behinderte Menschen gravierend benachteiligt werden. Das von den Fachgesellschaften vorgeschlagene Verfahren der Entscheidungsfindung fordert zwar ein „Mehraugenprinzip“, dabei wird jedoch nur an die „Fachleute“ gedacht. Die Betroffenen selber oder ihre Angehörigen spielen keine Rolle. Die Entscheidungen sollen lediglich „transparent kommuniziert und sachgerecht dokumentiert werden“. Dies ist nicht hinnehmbar!

Die Selbstvertretungsorganisationen NW3 e.V. und ISL e.V. fordern:

  • Behinderung darf kein Kriterium bei Priorisierungs-Entscheidungen sein
  • Rasche Intensivierung der Kapazitäten in der Notfallmedizin,um möglichst keine Priorisierungs-Situationen entstehen zu lassen
  • Keine Verwendung veralteter und diskriminierender Instrumente bei Entscheidungsfindungen
  • Menschenrechtliche Basierung von medizinisch-ethischen Empfehlungen
  • Berücksichtigung und Diskussion internationaler Empfehlungen zu COVID-19, etwa der International Disability Alliance (IDA), des Europäischen Behindertenforums (EDF)
  • Breite gesellschaftliche Diskussion und Einbeziehung der Betroffenen und ihrer Organisationen bei allen Maßnahmen und Empfehlungen zu COVID-19
  • Erarbeitung von Empfehlungen, die durch demokratisch legitimierte Mandatsträger*innen verantwortet werden"


Die Verfasser*innen fordern statt dem Rückgriff auf das 'Expertengremium' eine breite Einbindung gesellschaftlicher Akteur*innen. Dies sollte schnellstmöglich in Verantwortung des Deutschen Bundestags durch einen virtuellen runden Tisch realisiert werden. Beteiligt werden sollten neben dem Deutschen Ethikrat und medizinischen Fachgesellschaften auch Vertrer*innen von Behindertenorganisationen, dem Deutschen Institut für Menschenrechte und der BAG Wohlfahrtspflege.