Alle(s) krank(t)
Die Radtkes haben eine aufsuchende Familientherapie beantragt, und wir hatten ausreichend Zeit für den Abschied. Umsetzen konnte ich die Abschlusstermine allerdings nicht so, wie ich es gern gehabt hätte, weil wir alle über sechs Wochen nacheinander krank gewesen sind. Zuerst Greta und der Vater, dann die Mutter, dann ich. Da der Fall im Dezember beendet werden soll, führte ich die Abschlussgespräche telefonisch, abwechselnd mit den getrennt lebenden Eltern und auch mit Greta. Eine Abschlusshilfekonferenz fand nicht statt. Schade.
Um die Sache für mich noch etwas rundzumachen, schrieb ich ergänzend zum formalen Bericht noch einen kleinen Familienbrief, in dem ich meine Wertschätzung zum Ausdruck brachte, einige markante und ressourcenorientierte Sätze aus der gemeinsamen Arbeit aufgriff und mich verabschiedete. So ein Brief würde nicht zu jeder Familie passen, aber hier passt es, wie ich finde. Rückblickend bin ich bin mit dem ganzen Verlauf sehr zufrieden und ich mochte die Radtkes. Insbesondere die Mutter, die im Juni noch ernsthaft ans Auswandern dachte und sich nun für ein Sabbatical entschieden hat.
Sie wird ab September für 4 Monate im Ausland sein, und wenn Greta bis dahin noch einige Übungen in puncto Selbständigkeit schafft, kann sie ihre Mutter in den Herbstferien besuchen.
Der Beginn einer neuen SPFH mit Clearingauftrag hat sich verzögert, weil auch hier alle nacheinander krank waren. Zuerst hat die Familie abgesagt, weil die Kinder erkältet waren, dann war der Jugendamtsmitarbeiter krank und ich auch. Nun ist die Hilfekonferenz in den Januar verlegt. Notstand überall. Auch privat ist es schwierig. Im Kino war ich alleine, weil meine Freundin plötzlich wieder Corona-positiv war. Und als meine Nichte anrief und fragte, ob ich ihr Kind ein paar Stunden betreuen kann, musste ich absagen, weil ich Schnupfen hatte. Und als ich dann wieder fit war, hatte der Kleine sich eine fiebrige Erkältung eingefangen und ließ nur Papa oder Mama an sich ran, und dann lagen sie alle drei flach.
Meine Kollegin sagt, das ganze System ist doch krank, der Gesundheitsbereich genauso wie die soziale Arbeit. Die Apotheken sind leergefegt, die Wartezimmer und die Kinderkliniken sind voll, Jugendämter nur eingeschränkt arbeitsfähig und die SPFH kann sowieso nur noch Löcher flicken. Das alles bedeutet auch, dass der Kinderschutz nicht immer gewährleistet werden kann. Wir arbeiten oft mit Familien, die unter mehr als schwierigen Bedingungen leben. Die wenigsten können es sich leisten – so wie Frau Radtke – ihre Träume zu leben. Meine Kollegin betreut eine 8-köpfige Familie, die in einer 3-Zimmer-Wohnung lebt. Hier haben sich auch alle gegenseitig angesteckt und ich frage mich, wie gesund-werden geht, wenn der Körper Ruhe braucht und es diese Ruhe nicht gibt, wegen der beengten Wohnverhältnisse. Meine Kollegin ist eher besorgt, weil sie ja eigentlich die überforderten Eltern unterstützen soll. Nun konnte sie seit drei Wochen keine Hausbesuche mehr machen, nur kurze Telefonate waren möglich, und die Kinder hat sie auch nicht gesehen. „Das ist frustrierend, wenn man so gar nichts bewegen kann“, sagt sie, und ich bekomme fast ein schlechtes Gewissen, weil ich mich gerade noch über die Radtkes gefreut habe.
Zwischen Weihnachten und Silvester wollte ich eigentlich mit meiner Abschlussarbeit für die Isef-Ausbildung (Insofern erfahrene Fachkraft im Kinderschutz) anfangen. Aber ich musste kurzfristig den Telefondienst und eine Krankheitsvertretung übernehmen. Beim Hausbesuch schimpfte die Mutter auf die Lügenwerbung, die überzuckerte Produkte als gesunde Nahrungsmittel anpreist. Und ich finde, ein Verbot dieser Werbung, die sich noch dazu gezielt an Kinder richtet, wäre mal ein richtig guter Beitrag zum Kinderschutz. Es gäbe viel weniger Streit in den Familien, die Eltern wären mehrfach entlastet, es gäbe weniger Zahnschmerzen und gesündere Kinder.
Ihre Katja Änderlich