Foto von der Semestereröffnungsfeier
Semestereröffnungsfeier für die 5.000 Erstsemester am Sanya College

China-Tagebuch Teil 3 - Erlebnisse als Gastprofessor am Sanya College auf der Insel Hainan.

von Prof. Dr. Horst Helle
07.10.2010 | Soziale Arbeit | Schwerpunkte Kommentare (0)

Der Soziologe Horst Jürgen Helle berichtet im dritten Teil seines Berichts aus China von seinen Kontakten zu anderen ausländischen Lehrenden, einem Zusammentreffen mit dem Gründer und Chef des Sanya College sowie von chinesischen Feiertagen.

Hintergrund

Der Soziologe Horst Jürgen Helle wurde von der Stiftungsinitive Johann Gottfried Herder im Deutschen Akademischen Austauschdienst aus dem Ruhestand zurückgeholt und als Gastprofessor an das südlichste Kollege der Volksrepublik China nach Sanya auf der Insel Hainan vermittelt. Er ist seit 2002 mit einer Deutschen chinesischer Abstammung verheiratet, so dass er immer einer Übersetzerin bei sich hat. Helle und seine Frau Lilly haben drei Töchter: Lisa (7), Rita (5) und Emmy (2). Samstag, 18. September 2010 (letzter Tag der 4. Woche) Am Samstag sind wir nach der Schule eingeladen zu dem Amerikaner Jeremy und seiner chinesischen Ehefrau, die den westlichen Namen Tracy angekommen hat. Ich hatte Jeremy bei dem Treffen der Sprachlehrer kennengelernt. Seine Frau arbeitet hier bei der Fernsehstation der Insel, und es ist verabredet, dass wir uns bei Schulschluss an Lisas Schule treffen und Jeremys Frau uns dort mit ihrem Auto abholt. Kurz vor 17 Uhr finden sich dann Lilly, Rita, Emmy und ich per Bus bei Lisas Schule ein und reihen uns unter die wartenden Eltern und Großeltern ein. Die Schule hat ein eindrucksvolles eigenes und völlig abgeschirmtes Gelände von Gitter und Eingangstor umgeben. Jeder Schüler trägt einen Ausweis mit Foto am Hals, und außerdem tragen alle – außer bislang Lisa – eine Schuluniform. Bei der Entlassung aus der Schule kontrollieren Wächter am Ausganstor, ob das betreffende Kind tatsächlich abgeholt wird. Wer seine Mutter oder andere Abholperson nicht schon von innen aus sieht, wird gar nicht hinausgelassen. Diese Prüfung geschieht bei Lisa mit besonderer Sorgfalt; denn man meint in der Schule, weil sie gut aussieht, sei sie besonders gefährdet. Lisa kommt freudestrahlend aus der Schule, und da wir als Kleinfamilie nun vollzählig sind, bleibt uns nur noch, auf Tracy zu warten. Sie kommt nach einigen Minuten mit ihrem eigenen Auto, einem Buick, mit dessen Ankauf sie wohl mitgewirkt hat, General Motors aus der Krise zu helfen. Wir haben alle sechs, Tracy am Steuer, ich neben ihr vorn, und hinten Lilly mit den drei Mädchen, bequem Platz in der Karosse, und es liegt ein Hauch von westlichem Wohlstand über der Szene. Tracy, die ich nun erst kennenlerne, und die Lilly bisher nur per Telefon kannte, entschuldigt sich für ihre geringfügige Verspätung; zu viel Stress im Büro, und sie sei auch noch nicht dazu gekommen, die Verlängerung des Visums für Ihren Sohn auf den Weg zu bringen. Also bitte sie uns um Zustimmung, wenn sie das eben auf dem Weg mit erledigt. So fahren wir denn zunächst nicht in die Wohnung von Tracy und Jeremy, sondern zur Ausländerbehörde. Tracy ist dann eine ganze Weile weg. Zum Glück lässt sie den Motor laufen, so dass wir in ihrem Buick weiterhin gekühlt werden. Sie hat mit Ihrem Mann Jeremy zehn Jahre lang in den U.S.A. gelebt, und beider Sohn, der dort geboren wurde, hat den Pass der U.S.A., und also braucht er hier ein gültiges Visum, das nun auszulaufen droht. Vom Behördenfrust gezeichnet kehrt Tracy endlich zu uns zurück. Wir fahren durch Straßen von Sanya, die wir noch nie gesehen haben. Fern von den Touristenvierteln mutet alles hier noch sehr nach Entwicklungsland an, die Verkaufsstände am Straßenrand, die an Rikschas erinnernden Motorradtaxen und auch der Zustand der Häuser. Endlich nähern wir uns wieder der Küste und den dort nach dem Muster von Honolulu errichteten Hochhäusern. Tracy steuert eine der Tiefgaragen unter einem Hochhaus an. Eine uniformierte Wächterin drückt den Knopf zum Hochfahren der Schranke und salutiert militärisch, als Tracy Gas gibt. Nach dem Parken fahren wir mit dem Fahrstuhl in den 18. Stock (ich glaube es gibt dort 26 Etagen) zu der Wohnung. Jeremy begrüßt uns herzlich, der Sohn Hunter passt im Alter etwa zu Rita, die Kinder reden Chinesisch und ein wenig Englisch, und bald stehen Jeremy und ich auf dem großen Balkon und genießen den Blick auf den Strand und über das Meer. Jeremy erklärt, dass für dieses große Gelände, das nun bebaut werde, die Kriegsmarine die Eigentümerin sei. Sie verkaufe es abschnittweise an die Bauunternehmer, die dann die Betonriesen hochziehen und die Eigentumswohnungen auf den Immobilienmarkt bringen. Die Wohneinheiten ganz oben unterm Dach, also das, was in den U.S.A. Penthouse heißt, sind für pensionierte hohe Regierungsbeamte aus Peking reserviert. Es wird Zeit zum Abendessen, und dafür ist bei einem Freund aus Italien (Stefano Berziga, aus Parma) ein großer Tisch reserviert worden. Das Restaurant liegt auch an der Strandpromenade, und dort treffen wir auf ein weiteres Ehepaar, Grace, ihr Mann, und drei Kinder, zwei Mädchen und ein Junge. So sind wir nun eine recht internationale große Mahlgemeinschaft, die fünf Neuen sind Iren. Der Chef der Familie ist Pilot und fliegt nur noch Inlandflüge in China. Grace war früher Flugbegleiterin, doch nun begleitet sie ihren Mann ohne zu fliegen. Wir kommen im Gespräch darauf, dass der Papst Großbritannien besucht, und dass er sich wohl zunächst in Schottland aufhält, weil dort so viele Iren leben. Ich erzähle von meinen alten Begegnungen mit Ratzinger und dass er ein begeisterter Wissenschaftler war und wohl noch ist. Da kann Jeremy noch eins draufsetzen: Er war jahrelang Mitglied im Stab des Weißen Hauses in Washington D.C. als der Kameramann von Präsident Bush. Er meint, Terroristen brauchten nur den zuständigen Kameramann in ihre Gewalt zu bringen, dann könnten sie jeden Prominenten umlegen. Darüber werde er nun einen Terror-Krimi schreiben. Als mein Kollege in Sanya ist er nur Englischlehrer, aber, na ja. Vielleicht hat ja dieses College unter seinen Ausländern einige noch nicht ausgeschöpfte Potentiale.

Woche 05: Sonntag, 19. September – Samstag, 25. September 2010

Sonntag, 19. September 2010 Erst nach aufmerksamem Studium des Kalenders kann man hier sicher sein, dass tatsächlich Sonntag ist. Der Wecker geht schmerzhaft früh, und die Apo ist wieder wie gestern gefordert, Lisa in die Schule zu bringen. Lisa bleibt nur am Vormittag dort; heute wird ein Freitag simuliert, und da ist nachmittags „Versammlung“.  Wir nehmen zusammen mit Lillys Vater den College-Bus zu einem besonders schönen Abschnitt des Strandes. Auf dem kurzen Fußweg vom Bus zum Strand fällt uns ein großes Schild mit der Inschrift CCCP auf. Hier gibt es ein besseres Restaurant mit dem schönen Namen „Sowjetunion“. Aber wir essen dort nicht, weil die Inhaber keine Kreditkarten akzeptieren. Schade, ich hätte gern der Kreditkartenfirma gegenüber demonstriert, dass ich noch 2010 in der UdSSR gegessen habe. Am Eingang zur Sowjetunion kann man sich weiße T-Shirts mit den karikierten Portraits von Prominenten bedrucken lassen. Touristen aus Russland haben hier eine erhebliche Bedeutung, heute vielleicht weniger als in der Vergangenheit. Die Flucht aus dem schrecklichen Winter Moskaus nach hier wird wohl schon seit langem dem dafür in Betracht kommenden Personenkreisen attraktiv erschienen sein. Der Strand ist gut besucht, das Baden macht viel Spaß, es gibt sogar Wellen. Als es dunkel wird, sehen wir am Himmel den Mond, der schon fast voll ist: Vorausschau auf des Mondfest, das am kommenden Mittwoch in ganz China gefeiert wird. Wir suchen ein großes Restaurant im ersten Stock eines Hotels auf, um zu Abend zu essen. Es ist dort brechend voll und unglaublich laut, weil Touristen aus allen Teilen Chinas schon damit begonnen haben, in den Vollmond hineinzufeiern. Montag, 20. September 2010 Lisa muss nicht in die Schule, auf dem Campus gibt es keine Lehrveranstaltungen, es herrscht tiefer Friede in einer traumhaften Umgebung. Ich freue mich darauf, in meinem schönen Büro ungestört zu arbeiten, doch da habe ich nun den angekündigten Zimmernachbarn bekommen. Er ist ein reizender Kollege, der an einer Hochschule in Schanghai agrarwissenschaftlich tätig war. Er spricht gut Englisch und hatte Kontakt nach Deutschland zur Universität Stuttgart-Hohenheim. Es besteht also kein vernünftiger Grund, nicht das Büro in aller Zufriedenheit mit ihm zu teilen. Dienstag, 21. September 2010 Schul- und College-Ferien gehen weiter. Eine Korrektur einer meiner Tagebucheintragungen wird nötig: Ich hatte gehört, dass Studenten zu sechst ein Zimmer teilen und erfahre nun, dass dies der Vergangenheit angehört. Jetzt sind nur noch jeweils vier zu einer WG vereint. Die Reduktion von sechs auf vier spiegelt wohl auch den Fortschritt wider, den China von Jahr zu Jahr macht. Mittwoch, 22. September 2010 Mit Staunen sehe ich in meinem Kalender, dass darin nicht nur Gundula und Mauritius steht, sondern auch „Chinesisches Herbstfest“. Tatsächlich nennen die Chinesen es Mitte-Herbst-Fest, also ein Fest, das wohl irgendwann einmal die Mitte des Herbstes markiert hat. Es herrscht Vollmond, leider aber auch bedeckter Himmel, so dass die Idealvorstellung vom Feiern nicht in Erfüllung gehen kann. Man setzt sich nämlich gern im Kreise der ganzen Verwandtschaft ins Freie unter den vollen Mond, und vergleicht ihn mit der Großfamilie, die – wie er – eine schöne runde Sache sein soll. Nun ist es draußen stürmisch und regnerisch, und da kann dann schon auch eine Familie mitfeiern, die den Vergleich mit dem Mond eher meiden möchte. – Dies ist unser 30. Tag in Sanya. Ich bin mit Wang und Lucy verabredet, um das geplante interkulturelle Seminar weiter voranzubringen. Mein Seminar über Georg Simmel, dass jeden Mittwoch abends sein soll, kann heute offenkundig nicht beginnen, eben wegen des Mitte-Herbst-Festes. Donnerstag, 23. September 2010 Während Lisas Schule einen Teil der durch die Vollmondferien ausgefallenen Unterrichtstage „vorgeholt“ hat, wird im Hochschulbetrieb nachgeholt, was Montag und Dienstag nicht stattgefunden hat. Das bedeutet, dass ich am kommenden Samstag das Montagsprogramm und am Sonntag das Dienstagsprogramm abwickeln muss. Darauf folgen dann die normalen Unterrichtstage, also liegt es nahe, etwas mehr Zeit auf Vorbereitungsarbeiten zu verwenden. Mein Zimmergenosse im Büro war zwei oder dreimal dort, taucht aber nun erst einmal nicht mehr auf, so dass ich wieder allein darin sitze. Freitag, 24. September 2010 Wir nutzen den letzten Tag der Schulferien, um noch einmal an den Strand zu fahren. Abends bei der Heimkehr fällt mir auf, dass in einer Grünfläche, die nicht abgesperrt oder irgendwie gekennzeichnet ist, ein großes Loch im Boden klafft. Dort fehlt ein Kanaldeckel, und der Gedanke, man könnte dort unversehens in der Dunkelheit hineintreten, ist schrecklich. Samstag, 25. September 2010 Wie an normalen Montagen habe ich um 8 Uhr Vorlesung. Es wird ein Wochenende der härteren Art. Der früher Termin hat aber den Vorteil, dass es dann noch nicht ganz so heiß ist. Wir machen Durkheim, und die Aufmerksamkeit ist relativ hoch. Anschließend telefoniere ich mit Jeremy, und wir verabreden uns für morgen, Sonntag, zum Mittagessen. Am Nachmittag findet der Gastvortrag von Prof. Wen Jun statt. Er ist Professor, geschäftsführender Institutsdirektor und Parteisekretär als Soziologe an der East China Normal University in Schanghai. Er spricht anhand von eindrucksvollen Folien über die zukünftige Entwicklung Schanghais, einer Megastadt, die jetzt schon ca. 20 Millionen Einwohner hat und von der erwartet wird, dass sie in Zukunft mit ihren Nachbarstädten zu einer riesigen Metropolregion zusammenwachsen wird. Auf dem größten Sportgelände des Campus ist eine Tribüne aufgebaut, und ich beobachte am Nachmittag, dass hunderte von Studenten mit Stühlen in Richtung zu dem Gelände strömen. Die Semestereröffnungsfeier für die Erstsemester ist angekündigt, und jeder soll seinen eigenen Stuhl mitbringen. So werden aus den Wohnheimen im Laufe des Nachmittags 5000 Stühle auf das Sportgelände getragen, und das sind für einige recht lange Märsche bei der üblichen Hitze. Unsere Kinder befinden sich alle drei in guter Obhut der Großeltern, und so können Lilly und ich das Campus-Café aufsuchen, was vom Fenster aus einen guten Blick auf das Sportgelände und die Semestereröffnungszeremonie zulässt. Begrüßt werden der Bürgermeister, der Parteisekretär, die Chefs des Colleges, und dann werden die obligaten Reden gehalten. Als es zu Ende ist, geht jeder wieder mit dem Stuhl, auf dem er oder sie gesessen hat, zurück in sein Wohnheim.

Woche 06: Sonntag, 26. September – Samstag, 2. Oktober

Sonntag, 26. September Von Sonntag kann gar keine Rede sein. Ich unterrichte wie jeden Dienstag, vormittags Economic Sociology und nachmittags die Vorlesung für die 140 Anfänger. Nach der Vormittagsveranstaltung wollten Jeremy und ich uns treffen. Aber ehe ich die Wohnung verlasse, ruft das Büro des Sub-College an und teilt mit, dass der Gründer und Chef des Sanya College, Prof. Shen Guan Bao von der Shanghai University, mich in sein Büro bittet. Lilly sagt am Telefon, das ginge leider nicht, ich hätte Lehrveranstaltung. Das löst auf der anderen Seite Verblüffung aus, es wird mit Shen Rücksprache gehalten und ein Kompromiss gefunden, ich soll die letzten 20 Minuten meiner Economic Sociology streichen, die Studenten früher entlassen und dann zu Shen gehen. Ich telefoniere mit Jeremy und kündige an, es könnte später werden als wir verabredet haben. Die Studenten reagieren fast nicht auf die Nachricht, dass wir früher schließen; sie bleiben alle ruhig sitzen und lassen mich fortgehen. Eine Mitarbeiterin des College bringt mich ins Hauptgebäude in das Büro von Prof. Shen, und da wird mir klar, dass ich hier den wahren Leiter dieser ganzen Unternehmung kennenlerne. Das Büro ist groß und eindrucksvoll ausgestattet, er hat zwei junge Leute bei sich, die ihm Assistent und Sekretärin zu sein scheinen, er bittet mich auf sein Sofa, sitzt im rechten Winkel zu mir auf einem Sessel und spricht ausgezeichnetes Englisch. Er ist auch Soziologe, hat in London promoviert, kennt Anthony Giddens und die Arbeiten von Ulrich Beck, also ein internationaler Mann. Der große Kulturanthropologe Chinas Fei Xiao Tong, der in London bei Malinowski promoviert hatte und  – wenn er noch lebte – heute über 100 Jahr alt wäre, war der Lehrer und Doktorvater Shens. Der Gründer von Sanya College ist also so etwas wie ein wissenschaftlicher Enkel Malinowskis.  Bei meinem ersten Peking-Besuch habe ich Fei kennengelernt, und das macht mich fast zum „Verwandten“ von Shen. Ich spreche ihn darauf an, dass er die Idee gehabt hat, mit der Autofirma Jeely als Geldgeber dieses College auf die Beine zu stellen. Formell ist einer seiner Schüler hier der Präsident, doch im Gespräch wird sofort klar, dass Shen der eigentliche Führungsfigur ist. Er ist auch der akademische Lehrer von Li Li, mit dem Lilly ja meine Einladung nach hier ausgehandelt hat. Shen und ich verstehen uns auf Anhieb gut, er entschuldigt sich, dass er mich so knapp zum Gespräch eingeladen habe, er sei zu der Semestereröffnungszeremonie gekommen und müsse noch heute wieder nach Schanghai zurückfliegen. Er bedankt sich dafür, dass ich hier „voluntary work“ leiste und erkennt das als eine Art Entwicklungshilfe sehr freundlich an. Als er mich nach Problemen fragt, die mir begegnet seien, berichte ich, dass die Englischkenntnisse der Studenten sehr unterschiedlich seien. Er versteht das, und eben darum, s.o.: Entwicklungshilfe. Da das Gespräch intensiv aber kurz ist, komme ich noch rechtzeitig zu meiner Verabredung mit Jeremy. Wir spazieren zum Eingang des Campus und nehmen von dort eines dieser Campusgefährte, die man von großen Ausstellungen her kennt. Sie sehen wie verlängerte Golfwagen aus und bieten bis zu (eigentlich) 15 Personen Platz. So kommen wir zu dem Café, von dem aus Lilly und ich die Eröffnungszeremonie beobachtet haben. Es gibt Gesprächsstoff genug. Ich will von Jeremy wissen, wie er ins Weiße Haus von Präsident Bush gekommen ist, wie er als Schriftsteller seine Romane schreibt und wie er Verlage findet, die mit ihm zusammenarbeiten. Dabei essen wir French Fries und Pizza. Montag, 27. September 2010 Wie an normalen Montag ist die Vorlesung um 8 Uhr. Die Studenten haben sehr nett einen Stuhl, ein zweites Mikrophon und eine Flasche Wasser für Lilly, die Übersetzerin, vorbereitet und sind ganz enttäuscht, als ich erkläre, dass sie nicht mehr kommt, sondern dass ich von nun an mit Power Points und in freier Rede ohne sie weitermache. Dienstag, 28. September 2010 Lehrveranstaltungen um 10:10 und um 16:50 Uhr. Lilly kommt kurz nach der Pause mit Lisa in den Hörsaal, um ein paar Fotos zu machen.  Abends sehe ich im Fernsehen den Bericht von einem Besuch des Präsidenten Russlands mit einer Wirtschaftsdelegation bei der Führung  Chinas. Eine seit zehn Jahren im Bau befindliche Erdöl-Pipe-Line ist fertiggestellt und Russland verkauft nun ständig große Mengen Öls nach hier. Anschließend findet eine Expertendiskussion statt. Da die Klimakatastrophe „zum Glück“ im Norden Russlands große Flächen freigibt, die bisher vom Eis bedeckt und daher weitgehend unzugänglich warn, werden in naher Zukunft weitere Erdölfelder erschlossen werden können. Aber der Energiebedarf Chinas ist so gewaltig, dass Russland sich außerdem vertraglich verpflichtet, eine größere Zahl von Atomkraftwerken in China zu bauen. Parallel dazu zerbrechen wir uns in Deutschland den Kopf über die Frage der Laufzeitverlängerung. Mittwoch, 29. September 2010 Auf den Tag genau eine Woche nach dem großen Mondfest herrscht wieder Ferienstimmung auf dem Campus. Übermorgen, Freitag der 1. Oktober, ist in der Volkesrepulik China der Nationalfeiertag. Da wird aber nicht nur der Freitag selbst zum Feiertag, sondern in der folgenden Woche wird bis einschließlich Donnerstag weitergefeiert (und viele fahren oder fliegen natürlich weg von hier). Dabei gibt es den Unterschied, dass im College am kommenden Montag bis Mittwoch alle Veranstaltungen unwiederbringlich ausfallen, während die für Donnerstag und Freitag geplante Lehre am Samstag und Sonntag nachgeholt wird. Das betrifft also auch mein Mittwoch-Seminar, das aus verschiedenen Gründen (z.B. Mondfest) bisher noch nie stattgefunden hat und heute zum ersten Mal zusammenkommt. Es geht um Georg Simmel, das ganze Semester hindurch, und Beginn ist heute um 19:30 Uhr in dem Sitzungssaal, in dem die Fakultätssitzung am 2. September stattgefunden hat. Als ich kurz nach sieben losgehe, ist es hier schon völlig dunkel. Ich muss mich disziplinieren, wegen der fehlenden Kanaldeckel keine Abkürzungen zu gehen, sondern schön ordentlich auf den gepflasterten Wegen zu bleiben. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten gelingt es, mein kleines Notebook an den Beamer anzuschließen, so dass ich meine Simmel-Folien zeigen kann. Um den großen ovalen Tisch, an dem am 2. September unter Vorsitz der Frau Parteisekretärin die Lehrkräfte des Sub-College of Social Development. Ehe es losgeht kommt eine Studentin und fragt, ob die College-Fernsehstation während des Seminars Aufnahmen machen dürfe. Li Li und ich schieben die Entscheidung darüber eine Weile lang zwischen uns hin und her, bis ich dann zustimme. Doch kurz danach heißt es, daraus würde heute nichts, die Kamera sei defekt. Ich versuche also, für den großen Simmel zu werben, so gut wie das unter den gegebenen Umständen möglich ist, und als ich in der Pause den Sitzungsraum verlasse, steht da der Kameramann mit der Studentin von eben, und sie bittet nun doch wenigstens um ein Interview, da die Kamera inzwischen wieder funktioniert. Dann ist die Pause vorüber, und nun kommt das kleine Fersehteam mit nach drinnen, und macht von dem zweiten Teil der Seminarsitzung ein Video. Man soll hier nur nicht meinen, man wisse im voraus genau, was einem in den nächsten zwei bis drei Stunden passiert. Doch dann komme ich nach fünf Unterrichtstagen (Samstag, Sonntag, Montag, Dienstag, Mittwoch) etwas geschafft nach Hause und da sind – ganz planmäßig – mein Schwager und seine Frau, die Eltern von Tantan, aus Schanghai angekommen, um den Nationalfeiertag mit uns zu verleben und ihre für mehrere Wochen ausgelagerte Tochter abzuholen. Donnerstag, 30. September 2010 Heute ist es morgens endlich einmal so „kühl“, dass man sich draußen in Shorts und kurzem Hemd wohl fühlen kann, ohne gleich atemlos in den nächsten klimatisierten Raum zu eilen. Also freue ich mich, bei ausgeschalteter Kühlung und offenen Türen den Durchzug zu genießen. Lillys Bruder und seine Frau kommen zu einem längeren Gespräch auf Englisch, wir reden viel über die Kinder, und die beiden berufstätigen Eltern sind froh, ihre Tochter Tantan wieder bei sich zu haben. Am Abend laden sie die ganze Familie zum Essen ein. Wir fahren in einem völlig überfüllten Bus vom Campus ab. An diesem Vorabend des Nationalfeiertages wollen viele Studenten in der Stadt ausgehen. Die Straßen sind schon mit tausenden roter Fähnchen patriotisch dekoriert. Das Riesenrestaurant ist auf Meeresfrüchte und Fischspeisen spezialisiert. In einer ca. 1000m² großen Halle ist Platz für ca. 1500 Personen, die alle an runden Tischen mit je 10 Stühlen sitzen. Das einzige annähernd Vergleichbare, das mir dazu einfällt ist ein Biergarten. Viele kleine selbständige Händler und Köche betreiben in Konkurrenz miteinander Seite an Seite diesen kolossalen Laden. Man geht zunächst zum Einkaufen: In vielen Bassins sieht man die noch lebenden Fische, Krebse, Muscheln usw., wählt aus, was man essen möchte und bezahlt es. Zugleich gibt man die Standnummer des Koches an, der es zubereiten soll. Dort wird es dann gewürzt und gebraten, und man zahlt nun dem Koch einen Betrag für seine Dienstleistung. Ein dritter „Gewerbezweig“ sind die Frauen, die ich für Kellnerinnen gehalten hatte, die am Tisch Gemüse, Wassermelone, Fladenbrot etc. anbieten. Wir sind früh dort und können uns den Tisch aussuchen, doch im Laufe des Abends wird es voll. Ein Sänger mit Gitarre, der mit Mikrophon und Auto-Schlagzeug die ganze Halle ausschallen kann, kommt auch an die Tische mit einer Liste seines Repertoires. Von alledem, Fische, Köche, Gemüse, Sänger kann man aussuchen, was einem gefällt und was man bezahlen möchte. Da das Essen außerdem noch hervorragend schmeckt, ist es trotz der quälenden Busfahrt ein sehr gelungener Abend. Freitag, 1. Oktober 2010 Dies ist der Nationalfeiertag Chinas. Im Fernsehen laufen patriotische Rituale mit Militär, Stechschritt, Blasmusik, Gedenkkränzen und Delegationen in den Trachten der Minderheiten.  Durkheims Definition von Religion schließt das hier fraglos ein, und eben darum gefällt sie mir nicht. Und doch, auffällig ist der hohe Anteil des Rituals, der dem Totengedenken gewidmet ist, und das scheint mir das Wesen jeder Religion zu sein, dem Weiterleben nach dem Sterben den Status von Realität zu verleihen. Wir beschließen, wieder zum Strand am Restaurant Sowjetunion zu fahren. Den starken Regen zur Zeit unseres Aufbruchs versuche ich als Gewitterschauer einzuornen. Doch diese Definition bricht unter dem Druck der Wirklichkeit in sich zusammen: Es wird ein starker Dauerregen daraus, und wir brechen unser Strandprojekt ab. Statt dessen gehen wir wieder ins Campus-Café und haben dort alle zehn viel Spaß. Samstag, 2. Oktober 2010 Durch die ganze Nacht und auch heute den ganzen Tag regnet es stark. Ich weiß nicht, auf wen Petrus die Zuständigkeit für das Wetter in China deligiert hat (oder ob er sich gar selbst darum kümmert?) jedenfalls ist es dem Nationalfeiertag und dem sich daran anschließenden Wochenende gegenüber nicht sehr entgegenkommend. Meine Chinesen gehen (alle neun) trotzdem zum Schopping in die Stadt Sanya, und ich bleibe am Computer. Eine frühere Studentin von mir, die an der Münchener Uni vor Jahren bei mir Soziologie gelernt hat, verschaffte mir eine Einladung an ihre Universität hier in Xiamen, gebenüber der Insel Taiwan. Ich werde am 14. Oktober zu zwei Gastvorträgen hinfliegen und muss die Texte dafür nun vorbereiten.

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