Sandro Porfirio / Unsplash

Zuviel vom Falschen

Neueste Studienergebnisse der Bertelsmann-Stiftung machen deutlich, dass es im deutschen Gesundheitswesen nicht nur mangelt. Vielmehr belegen die Daten in einigen Bereichen eine drastische Überversorgung. Kurz: Es wird immer noch an vielen Stellen diagnostiziert, verschrieben und operiert, wo es nicht zwingend notwendig ist.

Der Gang in die Arztpraxis ist für viele Patient*innen nicht mehr das, was er mal war. Berichte über ein durchökonomisiertes Gesundheitswesen, gewinnorientiert arbeitende Praxen und Krankenhäuser verunsichern die Menschen zunehmend. Wurde der ärztlichen Profession früher weitestgehend großes Vertrauen und Hochachtung entgegengebracht, haben Menschen heute vermehrt das Gefühl, dass ärztliche Entscheidungen nicht mehr allein aufgrund sachlicher Kriterien getroffen werden. 

Oft sind mediznische Leistungen nicht notwendig

Ergebnisse einer von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie bestätigen nun, dass sowohl die Strukturen im Gesundheitswesen als auch falsche Erwartungshaltungen von Ärzt*innen und Patient*innen sogenannte Überversorgungen begünstigen können. Hierunter versteht der Sachverständigenrat im Gesundheitswesen (SVR) eine Situation, in der medizinische Leistungen über den eigentlichen Bedarf hinaus erbracht werden, also auch dann, wenn Leistungen erbracht oder verschrieben werden, bei denen ein möglicher Schaden den möglichen Nutzen überwiegt.

Das mit der Untersuchung beauftragte Berliner Institut für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES) konnte beispielsweise ermitteln, dass bei fast 90% der jährlich ca. 70.000 durchgeführten Schilddrüsenoperationen "keine bösartigen Veränderungen vorliegen." Vermeidbar seien solche Operationen vor allem durch eine gründlichere Diagnostik. Ähnliches gelte auch für Eierstock-Operationen: Nur in einem von zehn OP-Fällen bestätige sich der Verdacht einer bösartigen Erkrankung der Eierstöcke. Auch mit Blick auf die Verschreibung von Medikamenten kontnen die Forscher*innen erschreckende Erkenntnisse erzielen. So würden z.B. Magensäureblocker in 70% aller Fälle "ohne korrekte Indikation" verschrieben. Die Bertelsmann-Stiftung zeigt sich besorgt. "Das Nebeneinander von ambulanten und zu vielen stationären Versorgungsstrukturen" führe zu Überversorgungen, welche Ressourcen aufsaugten, die an anderer Stelle dringend benötigt würden. Auch spielten Fehlanreize im Vergütungssystem eine bedeutende Rolle. Denn während nachweislich falsches Handeln vergütet werde, bleibe korrektes Unterlassen unbezahlt.

Fünf Ursachenkomplexe

Insgesamt nennen die Autor*innen der Studie fünf Begründungsstränge für die Überversorgung:

  1. Systemische Rahmenbedingungen setzen Anreize für einen Überversorgung, z.B. durch Verfahren mengenbezogner Vergütung (viele OP´s = viel Umsatz),
  2. fehlendes oder falsch zur Anwendung kommendes medizinisches Wissen sorgt für fehlerhafte Empfehlungen,
  3. gesellschaftliche Trends wie ein verstärktes Kontrollbedürfnis führen zu mehrfacher Inanspruchnahme von Leistungen,
  4. im Verhalten der Patient*innen begründete Aspekte, z.B. Angst vor einer falschen Diagnose, eine geringe Gesundheitskompetenz etc.,
  5. im Verhalten der Ärzt*innen begründete Aspekte, wie z.B. der Umgang mit Patient*innenerwartungen und deren Suche nach der 'passenden' Diagnose.

Deutlich wird also, dass nicht nur die systemischen Strukturen, z.B. in Sachen Anreizorganisation, wesentlich sind, sondern auch die Dynamik im Verhältnis zwischen Ärzt*innen und Patient*innen. 

'Choosing wisely' als Lösungsmodell?

Angesichts der nach wie vor beträchtlichen Missstände im System wirbt die Bertelsmann-Stiftung für das aus Nordamerika stammende Modell des 'Choosing wisely'. Im Zentrum steht hierbei das ärztliche Bekenntnis zur Übernahme von mehr professioneller Verantwortung und gegen Überversorgung. Die medizinischen Fachgesellschaften überdenken und reflektieren hierbei fortlaufend die gängigen medizinischen und systemimmanenten Denk- und Verhaltensmuster, wie den in der Medizin oft weit verbreiteten Glaubenssatz "Mehr ist besser", der, wie die Bertelsmann-Studie bestätigt, eine Ursache für Überversorgung darstellt.

Bleibt zu hoffen, dass mehr Ärzt*innen sich hierauf besinnen, damit die bestehende Unwucht im System der medizinischen Versorgung in Deutschland überwunden werden kann.