"Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners" oder "Fake News"
Diese scheinbar paradoxe und unglaubliche Aussage ist wahr! Denn die Wirklichkeit, die uns Menschen umgibt, ist von Menschen gemacht. Sie ist natürlich oder entsteht künstlich. Sie ist also eine Erfindung, die sprachlich, gestisch, mimisch, traditionell oder modern ausgedrückt wird. Um das Rätsel und die Verunsicherung auflösen zu können, braucht es die Kritikfähigkeit – und die Unterscheidung von Moral und Ethik: Während der moralische Anspruch explizit ist und als Appell, Forderung, Vorschrift, Gesetz oder Predigt vermittelt wird und mit einem „Du sollst“ verbunden ist, stellt sich die Ethik als implizite Haltung, Einstellung und Selbsterkenntnis dar und zeigt sich im „Ich soll“ und „Ich will“[i]. Im philosophischen Diskurs kommt es also darauf an, das eigene Bewusstsein und die individuelle Aufgeklärtheit zu entwickeln hin zu der Erkenntnis, „wenn sich Moral oder Moralismus verkehrt, dann wird aus dem Eintreten für ein Ideal eine Strategie der Unterwerfung“ und nicht die ethische Haltung, in der das Eigene sich mit dem Anderen verbindet: „Was mir geschieht, geschieht dir“[ii].
Was ist Wahrheit?
Der antike griechische Philosoph Aristoteles hat zur Frage, was alêtheia, Wahrheit ist, erst einmal die verschlungene Antwort gegeben: „Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr“ Er bringt damit die Bedeutung der Benennung von Dingen, Zuständen und Entwicklungen zur Sprache: „Nicht darum nämlich, weil unser Urteil, du seiest weiß, wahr ist, bist du weiß, sondern weil du weiß bist sagen wir die Wahrheit, indem wir dies behaupten“[iii]. Dadurch wird die Ganzheit (und Vollkommenheit) der individuellen menschlichen Existenz als Grundlage der Unterscheidung von Wahrheit und Falschheit verstanden: „Nur für aufrichtige und nicht ironisch gemeinte Behauptungen gilt, dass mit ihnen tatsächlich ein Anspruch einhergeht“[iv].
Selbst gemachte Wahrheiten
Immer schon und immer wieder gibt es Versuche, Behauptungen, Entscheidungen, Erklärungen, Gebote und Vorschriften als „alleinig wahr“ darzustellen und sie als logisch auszuweisen. Dass daraus allzu oft Unwahrheiten, Schwierigkeiten, Katastrophen, Verführungen und Machtmissbrauch entstanden sind und weiterhin entstehen, lehrt uns die Geschichte der Menschheit. In den Zeiten des „Neusprech“, wie es sich im populistischen Propaganda- und „alternativen Fakten“-Diskurs entwickelt und als „Fake News“ Meinungen manipuliert und sogar (demokratische) Wahlen gewinnen lässt, wie sich ziemlich eindeutig bei den Präsidentschaftswahlen in den USA zeigt, werden objektive Wahrheiten einfach umgedreht und die Behauptung aufgestellt: 2 + 2 = 5[v]. Es sind menschen- und demokratiefeindliche Auffassungen, fremdenfeindliche, rassistische Behauptungen der (neuen) Egoisten, Faschisten, Manipulisten und der herrschsüchtigen Demagogen, Ideologen, Autokraten und Psychopathen in der Welt, die ihre selbstdefinierten „Wahrheiten“ mit Macht und Rücksichtslosigkeit umsetzen wollen. Zahlreiche Intellektuelle, wie z. B. die US-Autorin Siri Hustvedt, rufen auf, gegen die „absurden Lügen“ aktiven und wahrhaftigen Widerstand zu leisten[vi]. Mit der machtpolitischen, kapitalistischen und umgedrehten Frage „Was kostet die Wahrheit?“ werden die demokratischen und menschenrechtsbestimmten Werte und Normen im wahrsten Sinne des Wortes ge- und verkauft!
Widerstand ist notwendig
Der US-amerikanische Sprach- und Sozialwissenschaftler Noam Chomsky hat mit seiner Frage „Wer beherrscht die Welt?“[vii] und seiner Analyse über hegemoniale Macht- und Herrschaftsstrukturen[viii] den Finger in die Wunden zur Lage der Welt gelegt. Und der Volkswirt und Wirtschaftsjournalist Hans-Jürgen Jakobs listet auf, wer die Menschen sind, die in kapitalistischer Manier und Gier (scheinbar) der Meinung sind, dass ihnen die Welt gehöre[ix]. Damit nicht die Kapital-, Wirtschafts- und Finanzmacht die Mächtigen immer mächtiger und reicher und die Ohnmächtigen immer machtloser und ärmer macht, kommt es darauf an, sich auf die demokratische Bürgermacht zu besinnen und nach kapitalismus- und gesellschaftskritischen Wegen zu suchen, wie lokal- und globalgesellschaftliche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten beseitigt werden können[x]. Es geht darum, an der Gestaltung einer neuen Weltordnung[xi] mitzuarbeiten, die auf der Wahrheit beruht, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“[xii].
Globale Ethik kann man lernen
Gesellschaft evolutionär oder auch revolutionär zu verändern, ist Auftrag des zôon politikon, des mit Vernunft begabten, zwischen Gut und Böse unterscheidungsfähigen, ein gutes, glücklich-gelingendes Leben anzustrebenden Legewesens, das gewillt ist, friedlich und gerecht mit den Mitmenschen zusammen zu leben. So wird es den Menschen in der anthropologischen, aristotelischen Lebenslehre aufgegeben. Dort aber, wo diese „globale Ethik“ verneint und ersetzt wird durch ego- und ethnozentrierte, nationalistische, rassistische und populistische Ideologien, ist ein engagierter und überzeugter tätiger Widerstand gefordert. Wir sprechen hier von Demokratiepädagogik, die als familiale, schulische und Erwachsenenbildung notwendig für ein humanes Leben ist[xiii]. Die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ hat bereits vor mehr als 20 Jahren die Forderung an die Menschheit gerichtet, „sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“[xiv]. Die Aufforderung geht einher mit den von den Vereinten Nationen (erneut) 2015 ausgerufenen globalen Zielen für eine gerechte, nachhaltige und humane Weltentwicklung (sustainable development goals), die in der Bildung, Erziehung und im alltäglichen, individuellen und kollektiven Leben der Menschen verwirklicht werden sollen[xv].
Empathie
Gegen Autokratismen, Nationalismen, Fundamentalismen und Egoismen gibt es nur ein Mittel, das den Menschen als humane Eigenschaft gegeben und aufgegeben ist: Empathie. Es ist die Erkenntnis, dass der Mensch von seinem Wesen her „ein durch und durch soziales Wesen“, also nicht ein homo oecomomicus, sondern ein homo empathicus ist. Empathie ist der Boden, auf dem Demokratie wachsen und gedeihen kann. Die Erkenntnis, je empathischer eine Gesellschaft ist, desto demokratischer und je weniger empathisch umso totalitärer sie sich darstellt, lässt sich tagtäglich in der Welt besichtigen. Die hoffnungsvollen Erwartungen, es möge sich im menschlichen Bewusstsein und öffentlichen Diskurs die Überzeugung durchsetzen, dass der Mensch in seinem Grundwesen ein Homo empathicus ist, jedoch lassen sich nur dann verwirklichen, wenn das Bewusstsein von der emphatischen Natur des Menschen in unserer lokalen und globalen Welt sich im individuellen und gesellschaftlichen Dasein konkret im demokratischen, empathischen Denken und Handeln zeigt[xvi]. Empathie verbindet sich mit den Denk- und Handlungseigenschaften, die für ein menschenwürdiges, gutes und gelingendes Leben konstitutiv sind: Rationalität und Emotionalität. Während die Ratio als die von der menschlichen Vernunft geleitete Antriebskraft der individuellen und kollektiven Daseins- und Weltbetrachtung verstanden wird und das Denken und Handeln in der je philosophischen und anthropologischen Auslegung bestimmt[xvii], kommt dem Pathos und dem Affekt als emotionale Einstellung, Verhaltensweise, Tugend und Charakter für ein gutes, verantwortungsbewusstes Leben eine Bedeutung zu, die insbesondere beim humanen Zusammenleben der Menschen gefordert wird[xviii]. In der Zusammenführung der lebensleitenden rationalen und emotionalen Phänomene entwickelt sich das, was ein humanes, vergangenheitsorientiertes, gegenwartsbestimmtes und zukunftsgewandtes Dasein der Menschheit als „kreative Vielfalt“ (siehe Anm. 13)[xix].
Jeder Mensch ist gefordert
Kapitalismus- und Gesellschaftskritik sind Mittel und Wege, um die Irrwege und Stoppstraßen einer egoistischen und dominanten, lokalen und globalen Gesellschaftsentwicklung entgegen zu treten. Wenn von „Raubtier- und Kamikaze-Kapitalismus“ gesprochen wird[xx], soll ja darauf hingewiesen werden, dass soziale Ungerechtigkeiten daran schuld sind, wenn die Welt sich ungerecht entwickelt[xxi]. Dort, wo sich Entwicklungen abzeichnen und sogar Wirklichkeiten werden, dass der Mensch als Individuum und als Gesellschaftswesen zum Unmenschen wird und Machtsysteme aufbaut, die den Menschenrechten und der Menschenwürde widersprechen, braucht es Anstrengungen, wie es gelingen kann, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie informiert, aufgeklärt sein wollen und bereit sind, soziale und globale Verantwortung zu übernehmen. Bei den Fragen, was gerecht ist und wie Gerechtigkeit als individuelles und kollektives Menschenrecht in der Gesellschaft verwirklicht werden kann, gehen die gesellschaftlichen und politischen Antworten weit auseinander. Sie reichen vom Verständnis und Verteidigung der scheinbar besten, effektivsten und sogar „natürlichsten“, kapitalistischen Wirtschaftsordnung bis hin zu alternativen Lebensformen[xxii].
Fazit
Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit und einem freien, friedlichen, gleichberechtigten Leben aller Menschen auf der Erde braucht den Mut zum selbstverantwortlichen Denken und Handeln der Individuen in der Welt. Es sind die Ansprüche, selbst zu denken und nicht andere für sich denken zu lassen[xxiii]; es ist das individuelle und gesellschaftliche Verantwortungsbewusstsein dafür, dass Gerechtigkeit als Menschenrecht in der Welt herrscht[xxiv]; und es ist der notwendige Perspektivenwechsel, mit dem eine lebenswerte Welt für alle Menschen möglich wird. Dazu bedarf es eine neue Aufmerksamkeit dafür, dass die Erde sich weiter entwickelt zu einem humanem Lebensraum der Menschen[xxv].
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[i] Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21987.php
[ii] Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, Carl-Auer-Systeme Verlag, neunte Auflage 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/13980.php
[iii] A. F. Koch, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 25ff
[iv] Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S. 749
[v] Josef Joffe, 2 + 2 = 5. Wer Trump verstehen will, muss Orwells „1984“ lesen, in: DIE ZEIT, Nr. 6 vom 2. 2. 2017, S. 10
[vi] Siri Hustvedt „Laut und zäh“, in: a.a.o., S. 1f.
[vii] Noam Chomsky, Wer beherrscht die Welt? Die globalen Verwerfungen der amerikanischen Politik, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/22197.php
[viii] Noam Chomsky, Hegemonie oder Untergang. Amerikas Streben nach Weltherrschaft, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/22142.php
[ix] Hans-Jürgen Jakobs, Wem gehört die Welt? Die Machtverhältnisse im globalen Kapitalismus, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/22284.php
[x] Meinhard Creydt, Wie der Kapitalismus unnötig werden kann, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/22312.php
[xi] Michael Stürmer, Welt ohne Weltordnung. Wer wird die Erde erben?, 2006, https://www.socialnet.de/rezensionen/4094.php
[xii] Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, in: Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48; vgl. auch: Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/15601.php
[xiii] Helmolt Rademacher, Hrsg., Jahrbuch Demokratiepädagogik , 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21432,php
[xiv] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1995), 2., erweit. Ausgabe, Bonn 1997, S. 18
[xv] KMK / BMZ, Hrsg., Orientierungsrahmen für den Lernbereich ‚Globale Entwicklung‘ im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung, 2., aktual. u. erweit. Auflage, Bonn 2016, 464 S., (www.engagement-global.de); sowie: Kerstin Jantke, u.a., Hrsg., Nachhaltiger Konsum. Institutionen, Instrumente, Initiativen, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/22156.php
[xvi] Jeremy Rifkin, Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9048.php
[xvii] Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/14323.php; sowie: Silvio Vietta, Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21880.php
[xviii] Martha C. Nussbaum, Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17720.php; sowie: Valentin Beck, Eine Theorie der globalen Verantwortung. Was wir Menschen in extremer Armut schulden, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21228.php
[xix] Andreas Reckwitz, Die Erfindung der Kreativität, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/14393.php
[xx] David Graeber, Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus. Es gibt Alternativen zum herrschenden System, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/13337.php
[xxi] Ernst-Ulrich Huster, Soziale Kälte. Rückkehr zum Wolfsrudel?, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21666.php
[xxii] Jos Schnurer, Ist Geld die Quelle allen Übels – oder hat Geld immer recht?, 22.11.2013, https://www.socialnet.de/materialien/168.php; siehe auch: ders., Deutschland ist das Land mit der größten Vermögensungleichheit in Europa, 3.4.2016, https://www.sozial.de/index/php?id=94
[xxiii] Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/12903.php
[xxiv] Evi Hartmann, Wie viele Sklaven halten Sie? Über Globalisierung und Moral, 2016, https://www.socialnet.de/21952.php
[xxv] Jörn Müller, u.a., Aufmerksamkeit. Neue humanwissenschaftliche Perspektiven, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21112.php