Globalisierung war immer!

von Dr. Jos Schnurer
12.06.2016

Collage, zusammengestellt von Dr. Jos Schnurer
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Diese Behauptung bedarf natürlich der Erklärung. Wenn es um die Frage geht, was sich in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt alles verändert, kommt das Bild vom „globalen Dorf“ in den Blick, mit dem suggeriert wird, dass die Zustände und Bedingungen, wie sie (scheinbar!) in einer kleinen Ortsgemeinschaft vorherrschen – Jeder kennt jeden! Jeder hilft jeden! Jeder ist nett zu jeden! – auf die Menschheit übertragbar wären. Der Trick ist, die Menschheitszahlen – der Ticker des Weltbevölkerungszählers [1] weist gerade die Zahl 7.328.854.996... aus, und es wird darauf hingewiesen, dass jährlich die Weltbevölkerung auf der Erde um rund 80 Millionen Menschen zunimmt – auf eine überschaubare Größe herunterzurechnen und zu fragen: Wie sähe es in einem Wohnort mit 1.000 oder 100 Bewohnern aus, würde man die Existenz und die Lebensbedingungen der nunmehr fast acht Milliarden Menschen umrechnen? [2] Ob der Erkenntnisgewinn, der möglicherweise dadurch entsteht, dass man aus großen Zahlen kleine macht, und aus globalen Situationen und Problemen alltägliche Wirklichkeiten konstruiert, ausreicht, um lokal und global eine Welt zu denken und mitzugestalten, in der das Recht auf ein gutes Leben [3] realisiert werden könnte und die Chance bestünde, einen Perspektivenwechsel anzugehen, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 eindringlich gefordert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden” [4], sei dahingestellt. Diese Skepsis jedoch kann und darf uns nicht davon abzuhalten, danach zu fragen, was die real existierende globale Entwicklung an Positivem und Negativem bewirkt und welche Möglichkeiten Individuen und Gemeinschaften haben, auf sie im Sinne einer humanen Existenz für alle Menschen auf der Erde Einfluss zu nehmen. „Die Globalisierung ist ein Faktum, dem schwer zu entgehen ist, und sie ist ambivalent“, so kennzeichnet der Wirtschaftswissenschaftler Hermann Sauter die Situation. Er geht von seinen Lebensbedingungen seiner Verwandten aus, die seit Generationen in einem Bauerndorf auf der Schwäbischen Alb leben und fragt, wie sich deren Gewohnheiten, Wünsche, Hoffnungen und Aktivitäten angesichts der Globalisierung darstellen, Veränderungsprozesse erforderlich machen und welche gesellschaftspolitischen (Weltwirtschafts-)Ordnungssysteme notwendig sind, um eine neue Weltwirtschaftsordnung zu bewirken [5]. Im folgenden soll auf einige neuere, (subjektiv) ausgewählte wissenschaftliche Literatur verwiesen werden, wie sie vom Autor im Fach-Internet-Rezensionsdienst www.socialnet.de vorgestellt wurde. Es sind Fragen, die auf Prozesse und Probleme verweisen und deren mögliche Antworten einen Überblick über den wissenschaftlichen Diskurs über Für und Wider der globalen ökonomischen Entwicklung vermitteln und mögliche Veränderungsprozesse und Alternativen aufzeigen sollen.

Was ist Globalisierung?

Es sind die Schlag- und Reizwörter – Globalisierung, Macht, Hegemonie – die insbesondere kapitalismuskritische Vertreter auf den Plan rufen. Sie fordern dazu auf, eine fundierte Analyse der ökonomischen Entwicklung in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Welt wissenschaftlich vorzunehmen und „die Grundstruktur der globalen politischen Ökonomie in den Blick zu nehmen“. Im Juni 2004 hat sich ein Kreis von Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus dem deutschsprachigen Raum (Deutschland, Schweiz, Österreich) zur „Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG)“ zusammengeschlossen. Sie haben sich zum Ziel gesetzt, mit gemeinsamen Forschungsprojekten fächerbezogene und -übergreifende Theorie- und Praxisperspektiven zu entwickeln und die wissenschaftliche Disziplin der kritischen Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) in das Blickfeld für alternative Politik zu bringen. Dass dabei kapitalismuskritische Ansätze überwiegen, ist nicht verwunderlich angesichts der lokalen und globalen, kapitalistischen und neoliberalen Machtzuwächse.  Der Sammelband formuliert eine Reihe von, auch teilweise kontroversen Auffassungen und theoretischen Überlegungen, wie eine (Re-)Regulierung der lokalen, regionalen und globalen Wirtschaft analysiert und konstituiert werden kann. Die Positionen und Forschungsansätze der IPÖ beanspruchen dabei, „über die Untersuchung der gegenwärtigen Krise hinaus(zu)gehen und die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Transformationen der vergangenen zwanzig bis dreißig Jahre sowie die Grundstruktur der globalen politischen Ökonomie in den Blick (zu) nehmen“[6].

Was braucht der Mensch?

Der US-amerikanische Psychologe und Präsident der „American Psychological Association“, Abraham H. Maslow (1908 – 1970), gilt als Mitbegründer der Humanistischen Psychologie [7]. Maslow ist in der deutschsprachigen, psychologischen, psychotherapeutischen, soziologischen und entwicklungspolitischen Diskussion vor allem durch seine „Bedürfnispyramide“ bekannt geworden, mit der er die individuellen Grundbedürfnisse der Menschen aufzeigt und dabei auf existenzielle Menschenrechte verweist, wie dies in Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte postuliert wird: (1) Jedermann hat das Recht auf einen für die Gesundheit und das Wohlergehen von sich und seiner Familie angemessenen Lebensstandard, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung, Wohnung, ärztlicher Versorgung und notwendiger sozialer Leistungen…“. Es sind Forderungen nach sozialer und Verteilungsgerechtigkeit, die auf der globalen Agenda stehen und an das Gewissen der Menschheit rühren. Als Maslow bei seiner Suche nach Menschlichkeit die bis dahin in der Psychologie und Psychotherapie gewohnte Fragestellung „Was macht Menschen psychisch krank?“ einfach umdrehte und die Frage stellte: „Was zeichnet psychisch besonders gesunde Menschen aus?“, da stieß er auf eine bemerkenswerte Erkenntnis: „Psychisch besonders gesunde Menschen tendieren zu ‚mystischen Erfahrungen‘“. Dabei stellte er fest, dass Wünsche, Hoffnungen und Bedürfnisse nicht im Himmel oder Jenseits „erbetet“ werden sollten, sondern im Diesseits der alltäglichen Lebensbedingungen und Erfahrungen der Menschen angegangen werden sollten. Mit den zwei Fragen: „Eine wie gute Gesellschaft erlaubt die menschliche Natur?“, und „Eine wie gute menschliche Natur erlaubt die Gesellschaft“ holte er transzendentes Denken und Erleben auf die Erde und die Alltagswelt der Menschen zurück: „Der Mensch besitzt eine höhere und transzendente Natur, und sie ist Teil seines Wesens, das heißt seiner biologischen Natur als Mitglied einer Gattung, die der Evolution entsprungen ist“. Mit dieser ganzheitlichen Betrachtung zeigt sich logisch, dass Bedürfnisse nicht zuallererst ökonomische und haben-orientierte (Erich Fromm), sondern seins-bestimmte Notwendigkeiten sein sollten, „das Transzendentale und Einigende zu erfahren, sowohl in sich als auch im Anderen“[8].

Haben oder Sein?

Die bekannte Alternative zur Habenmentalität als Seinsmodus, wie sie der US-amerikanische Psychoanalytiker und Vertreter der kritisch-humanistischen Bildung, Erich Fromm, vorgestellt hat, gerät angesichts des lokalen und globalen, kapitalistischen und neoliberalen Strebens nach Immer-Mehr in Vergessenheit, oder findet eine Nische im philosophisch- pädagogischen Diskurs [9]. 33 Ansichten über das Haben, orientiert am auflistenden und reflektierenden essayistischen Diskurs der französischen Intellektuellen, bedingen zwangsläufig den Versuch, eine (erzählerische) Bestandsaufnahme über den philosophischen und alltäglichen Begriff des Habens vorzunehmen; gleichzeitig aber die Gegenposition des Seins im entwicklungspsychologischen und anthropologischen Vergleich einzubeziehen. Der Sprachwissenschaftler Harald Weinrich hält den Leserinnen und Lesern den Spiegel vor und fragt, wie sie es mit dem Haben halten. Dazu braucht er keine Statistiken und Analysen, sondern das, was den Sprachwissenschaftler in besonderer Weise auszeichnet: Seine erzählende Sprache, bei der er engagiert Bezug nimmt auf die lokalen und globalen Krisen, die die Menschheit erschüttern: Schulden-, Finanz-, Wirtschafts-, Arbeits- und Umweltkrisen. Es geht um HABEN und NICHT-HABEN als Kategorien menschlichen Daseins; und, weil als Erzählung konzipiert, um Überlegungen zu einer „Kunst des Habens“ (ars habendi) und zur Überwindung der Habgier, um die „Kunst des Nicht-Habens“ (ars egendi). Es sind Wege in die Höhen und Tiefen menschlichen Daseins, Wünschens, Hoffens und Irrens. Er plädiert für eine „Haben-Wissenschaft“ [10], die den Homo mundanus als welthaftes, evolutionäres  Lebewesen betrachtet [11].

Was für eine Ordnung braucht der Mensch?

Ob, wie und von wem die Welt geordnet ist, darüber gibt es seit Jahrtausenden Aussagen, Visionen und Ge- und Verbotsdiktate. Mit dem Begriff der (neuen) Weltordnung kommt zum Ausdruck, dass die Menschheit endlich von einer „Kultur des Krieges zu einer Kultur des Friedens“ kommen (Federico Mayor) und im Bewusstsein der Menschen eine universelle Verantwortungsethik Einzug halten müsse. Dass dies im Konjunktiv formuliert wird, heißt ja nichts anderes, als dass diese Forderung längst noch nicht Wirklichkeit in der Welt ist, und die Visionen und Programme, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in der Welt zu schaffen, weiterhin auf die Realisierung warten. Damit sind wir bei der großen Herausforderung an die Menschheit, sich gemeinsam eine allgemeingültige, nicht relativierbare Ordnung, also eine „globale Ethik“ zu geben, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 als „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte, (die) die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ grundgelegt ist [12]. Der Politikwissenschaftler und Lehrstuhlinhaber für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre an der TU in Braunschweig, Ulrich Menzel, legt ein umfangreiches und anspruchsvolles Buch vor, mit dem er nicht mehr und nicht weniger als „die Welt erklären“ will. „Es soll darin gezeigt werden, was die Welt im Innersten zusammenhält, wer für Ordnung sorgt in der Anarchie der Staatenwelt, in der es keine übergeordnete Instanz, keinen Weltstaat gibt, der mit einem internationalen Gewaltmonopol ausgestattet ist“. Er formuliert bereits zu Beginn: „Die Ordnung in der Anarchie der Staatenwelt resultiert aus der Hierarchie der Staatenwelt“ und begründet damit den Untertitel seines Buches; und er verweist auf seine jahrzehntelangen Forschungen und (Fall-)Studien zu Fragen nach einer (neuen) Weltordnung. Nicht ohne Grund, sondern eher selbstverständlich kreisen Menzels Forschungsarbeiten um die Frage, wie Mächte, Imperien und Reiche internationale Ordnungen bestimmen und sich Zentrismen bilden konnten und können. Weil diese überwiegend nicht auf Zufälligkeiten oder natürlichen Entwicklungen beruhen, sondern von Menschen „gemacht“ sind, bedarf es bei der gesellschaftspolitischen und -historischen Analyse des hermeneutischen Blicks [13].

Was ist wahr?

Die wilden Jahre des Konstruktivismus und der Systemtheorie seien vorbei. Mittlerweile gehöre konstruktivistisches und systemisches Denken zur „normal sciens“. Davon jedenfalls ist der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen überzeugt. Und er benennt dafür einen Zeugen, den österreichisch-US-amerikanischen Physiker und Philosophen Heinz von Foerster (1911 – 2002). Er gilt als Vertreter des radikalen Konstruktivismus und Mitbegründer der Kybernetik als Grundlage der modernen Computerwissenschaft. Der Umgang mit den neuen Kommunikationsinstrumenten wird ja glücklicherweise heute unter durchaus kritischen Aspekten betrachtet: „Das digitale Zeitalter hat seine eigene Schönheit und seinen eigenen Schrecken“. In dieser Ambivalenz zeigt sich ein „Kontrollverlust im digitalen Zeitalter …, wenn die Komplexität der Interaktion von Informationen die Vorstellungsfähigkeiten eines Subjektes übersteigt“ [14]. Es sind Fragen, wie Wirklichkeit entsteht, konstruiert, verändert und verfälscht wird [15]. Sind es Realisten, Optimisten, Fatalisten oder vielleicht Skeptiker, die den Fragen nach der Wahrheit auf die Spur kommen? Foerster und Pörksen beziehen sich in ihrem vor mehr als einem Jahrzehnt geführten Dialog über Erkenntnis und Ethik auf ein fundamentales Prinzip kybernetischen Denkens: Zirkularität und nicht Gleichklang oder gar konformes, auferlegtes Denken [16]. Dass das nichts zu tun hat mit Negieren, Fatalisieren oder gar Beckmesserei, wird spätestens deutlich, wenn es darum geht, wie die Suche nach der Wahrheit erfolgreich sein kann, nämlich mit dem Bild des „gemeinsam Am-Seil-Gehens“, um humane Veränderungen mit bewirken zu können und sich zu vergewissern, dass Nonkonformismus ein erstrebenswertes Verhaltens- und Lebensziel ist [17].

Warum es wichtig ist, Wachstum zu korrigieren

Die Warnungen, dass ökonomisches Immer-Mehr die Menschheit nicht zum Höhepunkt, sondern ins Verderben stürzt, werden seit Jahrzehnten eindringlich und belegbar aufgewiesen. Die Grenzen des Wachstums sind erreicht (1972); die Menschheit steht am Wendepunkt ihrer Geschichte (1974); eine gemeinsame, humane und gerechte Zukunft der Menschheit lässt sich nur durch sustainable development, eine tragfähige Entwicklung ermöglichen (1987); nur durch einen Perspektivenwechsel hin zu neuen Lebensformen wird eine humane Existenz der Menschen zu verwirklichen sein (1995). Wenn mittlerweile selbst konservative Wirtschafts- und Gesellschaftsvertreter vor dem Missverständnis warnen, dass nur ein kontinuierlich steigendes Wirtschaftswachstum zu mehr Wohlstand für die Menschen führen würde [18], wird es Zeit, Abschied vom homo oeconomicus zu nehmen und im institutionalisierten Ordnungs- und Systembewusstsein Alternativen zu entdecken und zu leben, wie dies die Nobelpreisträgerin für Wirtschaftswissenschaften Elenor Ostrom vorschlägt [19]. Es ist die Erkenntnis, dass als Fundament für einen gesellschaftlichen Wandel hin zur anthropologischen Selbstverständlichkeit, ein gutes, gelingendes Leben allen Menschen auf der Erde zu garantieren, nur mit einer ökologisch tragfähigen Entwicklung gelingen kann [20].

Warum es notwendig ist, Autonomie anzustreben

Die verschiedenen, anthropologischen, gesellschaftswissenschaftlichen und alltäglichen Zuschreibungen zur Bedeutung des Begriffs „Autonomie“ verdeutlichen, wie unterschiedlich, ge- und missbräuchlich damit umgegangen werden kann. Im ethisch-moralischem Sinn stehen dabei die Werte Selbständigkeit, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit im Vordergrund. Der Idealzustand drückt sich darin aus, dass die jedem Menschen innewohnende Würde „die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“, wie dies in der Präambel der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, proklamiert wird [21]. Autonomie ist demnach die Fähigkeit, sich als Wesen der Freiheit zu begreifen und aus dieser Freiheit heraus human zu handeln. Es versteht sich von selbst, dass sich diese Haltung und Lebenseinstellung in den vielfältigen, individuellen und kollektiven, ethischen Handlungen artikuliert und damit auch als interdisziplinäre Diskussionsgrundlage betrachtet werden muss und begrifflich und analytisch als „Differenz zwischen einer analytischen Begriffsverwendung und der Auseinandersetzung mit einem in der sozialen Realität bzw. in konkreten gesellschaftlichen Kontexten gegebenem Wert“ verstanden werden muss [22].

Vertrauen ist gut - Kontrolle besser?

„Vertrauen haben“, als ethische und moralische Charaktereigenschaft hat im philosophischen, gesellschaftlichen und individuell-alltäglichen Denken und Handeln einen hohen Stellenwert. „Vertrauen ist ein Phänomen, das… Komplexität reduzieren kann und Kooperation erleichtert oder überhaupt erst möglich macht“ – diese Lesart steckt in den Gewissheiten, mit denen wir eine vertrauensvolle Einstellung verbinden und einfordern für alle individuellen, lokalen und globalen Lebensbedingungen der Menschen auf der Erde [23]. Die Fähigkeit, Vertrauen zu entwickeln, zu geben und zu nehmen, wirkt sich zum einen in alltäglichen, individuellen und lokal- und global-gesellschaftlichen Zusammenhängen aus, zum anderen im institutionellen, nationalen und internationalen Rahmen. Insbesondere in Krisensituationen zeigt sich, dass Vertrauen geben und empfangen eine notwendige, aber gleichzeitig problematische Vorleistung darstellt und eine breit gefächerte, kooperative Vertrauensbasis benötigt. Die Historikerin und Direktorin des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Ute Frevert, legt mit „Vertrauensfragen“ ein Buch vor, mit dem sie, wie im Untertitel formuliert „eine Obsession der Moderne“ konstatiert. Sie will den Begriff nicht nur beim Wort nehmen, sondern die vielfältigen Bedeutungen, Anwendungsformen und intellektuellen wie alltäglichen Ausprägungen historisch und aktuell herausarbeiten. Sie nimmt semantisch, historisch und aktuell die verschiedenen Begrifflichkeiten, Vorstellungen und Anwendungen der Tugend beim Wort und bietet Analyseinstrumente und Zugänge an, die es erleichtern, die Akte von Vertrauensforderungen und -beweisen verstehen und einschätzen zu können, und zwar individuell und kollektiv, bis hin zu den globalen Herausforderungen, „good governance“ in die Welt zu bringen[24].

Aufklärung?

Den Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien, das ist eine emanzipatorische Forderung, die an die humane Existenz des Menschseins geht. Das Vertrackte an dieser scheinbar selbstverständlichen Zielsetzung allerdings ist, dass Aufgeklärtsein ganz unterschiedlich verstanden wird. Wie klärt man die Menschen so auf, dass sie aufgeklärt sein wollen? – das nämlich ist hier die Frage! Im philosophischen, anthropologischen Diskurs wird ein aufgeklärter Mensch vielfach mit dem Bild des aufrechten Gangs charakterisiert [25]. Der Literaturwissenschaftler von der Humboldt-Universität in Berlin, Steffen Martus, dagegen schaut darauf, wie sich in der Geschichte der Aufklärung in Deutschland die Aktivitäten und das Wirkens von namhaften Dichtern, Politikern, Wissenschaftlern und Theologen bei den Veränderungsprozessen hin zu demokratischem, aufgeklärtem Denken vollzogen haben. Er betrachtet die verschiedenen historischen Entwicklungen, wie sie sich in den Anfangsphasen der Jahre 1680 – 1726 zeigten, in der Hochzeit der europäischen Aufklärung in den Jahren 1721 – 1740 wirksam wurden, sich in den folgenden Jahrzehnten durchsetzten, aber auch teilweise scheiterten; und schließlich in den Jahren 1763 – 1784 sich die Janusköpfigkeit des Aufklärungsbewusstseins machtvoll artikulierte. Der Autor vermittelt mit seinem Epochenbild des 18. Jahrhunderts gerade die Imponderabilien, die sich nicht als Ordre Mufti oder als obrigkeits-gesetzgeberische Akte zur Durchsetzung von aufgeklärtem Gedankengut ereigneten, sondern als mehr oder weniger alltägliches, selbstverständliches wie sensationelles, gesellschaftliches und politisches Denken und Handeln daher kamen. Dabei hat er nicht nur die Geschichte im Blick, sondern auch den Spiegel in der Hand: „Wir sehen tagtäglich, dass Argumente, die uns triftig erscheinen, anderen Menschen gar nicht einleuchten. Wir stellen fest, dass unser Lebens- und Denkstil, unsere Lebens- und Denkhaltung nicht per Anweisung, Belehrung oder Gesetz übertragen werden können. Wir verstehen, dass wir für unsere grundlegenden Einstellungen werben müssen und dass wir dafür viel Zeit und Geduld und nicht allein gute, sondern auch attraktive und interessante Ideen benötigen“ [26].

Was ist Tradition?

Es ist schon erstaunlich, dass in den Zeiten der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt, in der sich kulturelle und zivilisatorische Trends angleichen, und in der konsumtive Tendenzen der Jeansisierung, der MacDonaldisierung und Cocacolisierung globale und scheinbar unaufhaltbare Ausmaße angenommen haben, dass Traditionen, gepaart mit Individualismen (und Egoismen), eine zunehmende Bedeutung und Aufmerksamkeit erlangen. Und zwar in ganz verschiedenen Auslegungen: Tradition und Traditionalismus. Traditionelles Denken und Handeln kann sich sowohl in Fehldeutungen und -einschätzungen, als Einbildung, Imagination, Erdichtung, Fiktion, Trugbild oder Wunschtraum darstellen, als auch als stabile Werthaltung und Weitergabe von Handlungsmustern, Überzeugungen, Glaubensvorstellungen zeigen. Weil Traditionen sich in vielfältigen Formen zeigen und kontextuell auftreten, sind die wissenschaftlichen Zugänge zu der Frage was Traditionen sind und sich von Traditionalismen unterscheiden, von besonderer, gesellschaftspolitischer und systemstabilisierender und -verändernder Bedeutung. Anthropologisch sind Traditionen (Identitäts- und Macht-)Funktionen, um Legitimität zu erzeugen und Werte- und Verhaltensnormen einzuüben. Falschen Traditionen aufzusitzen kann individuelle, kulturelle und gesellschaftliche Identitäten fehlleiten oder gar zerstören [27].

Was ist Zeit?

„Alles hat seine Zeit“ dichtete Erich Fried. Der Umgang mit der Zeit, als die „Zahl der Bewegung im Hinblick auf das Frühere und das Spätere“, wie dies Aristoteles mit „chronos“ bezeichnete, treibt Menschen um, seit sie zeitlich denken können. Während unsere Erfahrung mit dem Phänomen Zeit von ganz unterschiedlichen Eindrücken geprägt ist – Die Zeit vergeht wie im Flug, und: Die Zeit ist eine Schnecke – wird im anthropologischen philosophischen Denken der Zeit weder ein Anfang noch ein Ende zugeschrieben. Mit der philosophischen Formel „Panta rhei“ wird die auf den griechischen Philosophen Heraklit zurückgehende Erkenntnis zum Ausdruck gebracht, dass „alles fließt“: Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen. Das Sprichwort „Die Zeit steht still“ ist ein Anachronismus; und „Zeit ist Geld“ eine Verirrung. „Zeit haben“, wie auch „keine Zeit haben“ sind Kennzeichnungen von Lange-Weile und Stress und markieren eher menschliche Zulänglichkeiten und Unzulänglichkeiten, als eine mentale Auseinandersetzung über das Menschsein. Zeitvielfalt und Zeitdiktat sind Schlagwörter, hinter denen Zufriedenheit wie Unzufriedenheit mit dem individuellen und gesellschaftlichen, menschlichen Leben stecken. Zeit ist Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, je nachdem der Zeiger ausschlägt. Wer das Zeitliche im Menschsein vergisst, lebt nicht mehr [28]. Die Auseinandersetzung mit den philosophischen Fragen nach der Bedeutung des Phänomens, das da und doch nicht greifbar ist, das sich als erlebbar und doch nicht feststellbar darstellt, ist ohne Zweifel eine Herausforderung an den menschlichen Geist. Die Philosophie als „Lebenswissenschaft“ kann dazu wichtige Orientierungsmuster liefern [29].

Was ist Hunger?

„Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?“, nämlich dass weltweit mehr als 800 Millionen Menschen auf der Erde nicht genug zu essen haben und viele von ihnen Hungers sterben. Der Skandal des Hungers in der Welt ist immer wieder Thema im globalen Diskurs um Menschenrechte und Menschenwürde. Die Vereinten Nationen haben im Jahr 2.000 acht Millenniumsziele beschlossen; darunter das Ziel: „Bekämpfung von extremer Armut und Hunger in der Welt“. Die Bilanz allerdings zeigt, dass die Ziele bis zum Jahr 2015 auch nicht annähernd erreicht werden konnten. Deshalb wurde bei der Konferenz der Vereinten Nationen zur Nachhaltigen Entwicklung am 25. September 2015 in New York ein neues Programm aufgestellt und 17 „sustainable development goals“ (SDG) entwickelt. Als neue Zielvorgabe wurde das Jahr 2030 festgelegt. Der oben genannte Fluch stammt vom argentinischen Autor Martin Caparrós. Er ist fünf Jahre lang in der Welt herumgereist und hat Orte aufgesucht, an denen Menschen hungern: In Niger, Indien, Chicago, Bangladesh, Madagaskar und im Sudan. Mit seinem Bericht will er keine Schuldgefühle bei denen erzeugen, die in Wohlstand leben, sondern dazu auffordern, den lokalen und globalen Skandal zu widerstehen, dass in zunehmendem Maße die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden: „Es gilt darüber nachzudenken, wie eine Welt aussehen könnte, die uns nicht mit Scham, Schuldgefühlen oder Mutlosigkeit erfüllt – und nach Möglichkeiten zu suchen, wie man das erreichen kann“. „Wir kennen den Hunger, verspüren ihn zwei- bis dreimal am Tag. Hunger ist das Normalste von der Welt, und doch ist den meisten von uns nichts fremder als echter Hunger“; denn zwischen unserem Gefühl und Bedürfnis, etwas essen und trinken zu wollen und dem verzweifelten Hunger von Menschen, die nicht genug zu essen haben und oft nicht wissen, wie sie ihren Hunger stillen sollen, liegen Welten! Als Martin Caparrós in einem Dorf im westafrikanischen Niger mit dem Hungertod eines Kindes konfrontiert wurde, da musste er sich eingestehen: Ich hatte keine Ahnung! Das Land, das zwischen Wüste und Regenwald in der westafrikanischen Sahelzone liegt, wird regelmäßig von Dürrekatastrophen heimgesucht. Und die Menschen, die ansonsten mehr schlecht als recht von dem leben, was der karge, sandige Boden hergibt, meist von Hirsebrei und – wenn mal ein besonderer Tag ist – von einem Stück Ziegenfleisch, wissen nicht, wie sie sich und ihre Familien ernähren sollen. Die geschwächten, die jüngsten, die alten und aus vielen anderen Gründen an ihren angestammten Lebensraum gebundenen Hungernden bleiben wo sie sind und leben oder sterben. Die Aktiveren, die der Ausweg- und Perspektivlosigkeit entkommen wollen und können, machen sich auf, um eine neue Heimat zu finden, in der sie nicht hungern müssen (dass sie dabei nicht selten auf abwehrende Zäune und Mauern stoßen, diskriminiert und sogar mit scheinbar rechtsgültigen Argumenten abgewiesen werden, etwa, dass „Wirtschaftsflüchtlinge“ keinen Anspruch auf Asyl hätten, ist ein Thema, das in Caparrós´ Bericht nicht direkt, aber permanent indirekt und argumentativ behandelt wird (vgl. dazu auch: „Schauen Sie nicht zu, sondern hin“, 23.10.2015, https://www.sozial.de/ <Schnurers Beiträge>. Caparrós‘ „Hungerbericht ... ist ein Buch über die extremste Form des Hässlichen... Es ist ein Buch über den Ekel – den wir empfinden sollten für das, was wir getan haben; und falls wir uns davor nicht ekeln, sollten wir schon allein deshalb Ekel empfinden“ [30].

Was ist Altruismus?

„Handle so, dass die Folgen deiner Handlung bzw. Handlungsregeln für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind.“ Imperative sind Anweisungen, die aufs Ganze gehen! Es sind gebotsähnliche Forderungen mit dem Ziel, bisherige Einstellungen und Verhaltensweisen zu überdenken und gewissermaßen einen Paradigmenwechsel beim gewohnten und geübten Denken und Handeln vorzunehmen. Als klassisches Beispiel gilt dabei das Kantische Paradigma, das als kategorischer Imperativ die Grundlage eines humanen und ethischen Zusammenlebens der Menschen bildet und sich volkstümlich in der Aufforderung ausdrückt: „Was du nicht willst, das man dir tu´, das füg´ auch keinem andern zu!“. Immanuel Kant präzisiert seine „goldene Regel“, indem er den Bogen vom individuellen Denken und Handeln hin zur kollektiven, globalen Verantwortung spannt: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“. Der australische Philosoph und Ethiker Peter Singer wird der philosophischen Denkrichtung des Utilitarismus zugeordnet. Mit der Frage nach utilitas, dem Nutzen einer guten Handlung, werden die humanen Herausforderungen und Verantwortlichkeiten angesprochen, die sich beim Zusammenleben der Menschen als Individuen und Menschheit ergeben. Im philosophischen Diskurs haben sich dabei verschiedene (moralische) Deutungs- und Erklärungsmuster entwickelt, wie z. B. der Präferenzutilitarismus, der nicht, wie die klassische Form nach dem individuellen Glücksempfinden von Individuen, sondern nach deren Interessen und Wünschen fragt. Peter Singer benutzt diese Position in seinem Buch „The Most Good You Can Do“, das in deutscher Sprache im Suhrkamp-Verlag mit dem Titel „Effektiver Altruismus. Eine Anleitung zum ethischen Leben“ erschienen ist. Er entwickelt darin die Ideen des „do it better“, indem er den Grundgedanken des „effektiven Altruismus“ formuliert, nämlich „den maximalen Nutzen des eigenen Handelns zu ermitteln, für die Ärmsten der Welt“. Die Argumentationen von Peter Singer, wie effektiver Altruismus nicht nur dazu beitragen kann, für eine bessere, gerechtere und friedlichere (Eine) Welt einzutreten, indem der Einzelne so viel wie möglich vom eigenen Wohl-Haben abgibt, sondern auch zu einem besseren, individuellem und gesellschaftlichem, humanem, ethischem Leben führt, sind faszinierend und anregend für die immer wieder notwendigen Fragen: Wer bin ich? – Was soll ich tun? – Was kann ich hoffen?[31]

Was ist Terrorismus?

Gewalt wächst nicht auf Bäumen! Gewalt liegt auch nicht in den Genen der Menschen! Gewalt ist menschengemacht! Terrorismus entsteht aus einer Mischung aus Ideologie, Dominanzwillen, Höherwertigkeitsvorstellungen und Macht! Terrorismus hat zu Weltkriegen geführt und Genozide verursacht! Spätestens seit dem 11. September 2001, als der Terror eines seiner hässlichen Gesichter plakativ und weltweit zeigte, hat die Diskussion um den globalen Terrorismus einen festen Platz in unserem kollektiven Gedächtnis. Bedrohung, Angst und Unsicherheit bestimmen dabei sowohl die individuellen, als auch die lokal- und globalkollektiven Gefühle und Einstellungen der Menschen. Der Terrorist, als Feind der Menschlichkeit, hat Auffassungen ausgelöst, die scheinbar bei der friedliebenden Mehrheit der Menschheitsbevölkerung als verschwunden, zumindest als kontrollierbar galten: Xenophobie, Rassenhass, Diskriminierung des Fremden. Der Feind in der Gestalt der Terrororganisation Al-Qaida wurde in einer kollektiven Ablehnung der Muslime gefunden. Meinungsforschungsinstitute ermitteln, dass rund 80 Prozent der Deutschen sich durch Terroranschläge bedroht fühlen. In zahlreichen wissenschaftlichen Studien und Analysen wird versucht, den Ursachen von terroristischen Einstellungen und Taten auf die Spur zu kommen. Die amerikanischen Forscher W. G. Stephan, R. Diaz-Loving und R. und A. Duran haben in ihrer „Integrated Threat Theory“ darauf aufmerksam gemacht, dass Menschen unterschiedlicher (kultureller) Herkunft in Begegnungs- und Kommunikationssituationen Gefühle der Bedrohung oder Beunruhigung empfinden. Dabei vermischen sich, für die Beteiligten nicht immer direkt erlebbar, tatsächliche Bedrohungsgefühle und nicht immer bewusste negative Einstellungen, Stereotypen und Vorurteile. Solche erst einmal meist individuell erfahrene Irritationen werden dann auf die Gruppe übertragen, der der Gegenüber angehört. Der Zusammenhang von vermeintlicher und tatsächlicher Bedrohung und der Ablehnung und Diskriminierung von Muslimen ist hergestellt. An der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, Institut für Kommunikationswissenschaft/Abteilung Kommunikationspsychologie, wird ein Forschungsprojekt durchgeführt, das als „Jenaer Terrorismus Studie“ bekannt geworden ist und mittlerweile zahlreiche Analysen und Ergebnisse zur Thematik vorgelegt hat. Die Ergebnisse sind überraschend und bemerkenswert gleichzeitig: Weder ARD noch ZDF, aber auch nicht RTL und Sat.1, berichten in nennenswerter Weise über die Ursachen des Terrorismus. Im Gegensatz dazu jedoch nehmen Berichte über Anti-Terror-Maßnahmen einen breiten Raum ein. Zwar informieren die Privatsender tendenziell weniger über Terrorismus, wenn sie aber darüber berichten, geschieht dies in erheblich stärkerem Maße dramatisierend als bei den Öffentlich-Rechtlichen. „Die Nutzung des Privatfernsehens als wichtige Informationsquelle, ablehnende Einstellungen gegenüber Muslimen, verstärktes Bedrohungserleben und die Unterstützung massiver Anti-Terror-Maßnahmen stehen in einem sich wechselseitig verstärkenden Zusammenhang“ [32].

Konflikte vermeiden?

Frieden ist das höchste Gut der Menschheit, aber auch das fragilste und gefährdetste. Die theoretischen und praktischen Bemühungen, die Friedfertigkeit der Menschen zu begründen und zu fördern, „Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“, wie dies in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945 der Menschheit aufgegeben wird, ist und bleibt eine immerwährende, in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt immer dringlicher werdende Herausforderung. In Abwandlung der Zielsetzung, Unfrieden zu verhindern und Frieden zu schaffen, wie dies in der Verfassung der UNESCO zum Ausdruck kommt, könnte man sagen: Weil Konflikte im Geiste der Menschen entstehen, müssen die Kompetenzen gestärkt werden, friedfertig zu leben. Weil aber ein Zusammenleben der Menschen ohne Konflikte nicht denkbar ist, bedarf es des Umkehrschlusses: Konflikte sind menschlich. Sie existieren im Paradies genauso wie im Alltag. Und zwar individuell und kollektiv, lokal und global. Es kommt also darauf an, individuell und gesellschaftlich konflikt- und friedensfähig zu werden. Diese Kompetenz ist um so notwendiger seit die Welt sich globaler entwickelt. So kommt der zivilen Konfliktbearbeitung beim interkulturellen und internationalen Zusammenleben der Menschen eine wachsende Bedeutung zu [33]. Machen wir uns nichts vor: Leben ist eines der schwierigsten! Weil beim Leben immer auch das Risiko mitspielt! Oder ist Leben eines der natürlichsten Dinge der Welt? Mit solchen Fragen scheinen wir Menschen uns immer wieder schwer zu tun! Denn einerseits erleben wir alltäglich, dass Ungewissheiten, Unsicherheiten und Krisen unser Leben beeinflussen, stören und bestimmen, und andererseits wird uns bewusst, dass die Weltrisikogesellschaft (Ulrich Beck) eine globale Verantwortungsethik, eine transnationale Gemeinsamkeitsethik, eine globale Gewaltenteilung und Zusammenarbeit erforderlich machen [34].

Prima Klima?

„Klimawandel ist Kulturwandel“, was bedeutet, dass wir Menschen überall in der (Einen?) Welt aufgefordert sind, uns mit all unseren Möglichkeiten und unserem Bewusstsein darum zu kümmern, dass der (menschengemachte) Klimawandel nicht zu einem inhumanen, menschheitszerstörenden Menetekel wird! Spätestens seit dem in der „Agenda 21“ formuliertem, dramatischem Appell – „Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetentum, sowie eine fortschreitende Schädigung der Ökosysteme, von denen unser Wohlergehen abhängt“, wird die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit (auch) auf das Phänomen des globalen Klimawandels gelenkt (Bundesumweltministerium, Agenda 21. Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro, Bonn <1994>, S. 9). Dabei gilt: Der Klimawandel ist menschengemacht, als „eine Folge rasanter Industrialisierung und Urbanisierung und eines auf Wachstum und stetige Wohlstandssteigerung ausgerichteten Lebensentwurfs“. Dadurch ist die Herausforderung gewachsen, dass „Klimawandel“ eine lokal- und global-gesellschaftliche Aufgabe darstellt. In diesem sowohl halbherzigen wie gleichzeitig engagierten, wie auch kontroversen Diskurs dürfte Einigkeit darin bestehen, dass die Klimaproblematik nicht allein von der Politik gelöst werden kann; vielmehr bedarf es des vielbeschworenen wie gleichzeitig schwierig zu bewerkstelligenden Perspektivenwechsels – als individuelle und gesellschaftliche Herausforderung und als empathisches, humanes Bewusstsein darüber, dass jeder Mensch in seinem alltäglichen Denken und Tun das Schicksal der Menschheit in der Gegenwart und Zukunft mit sich trägt [35]. Diese Herausforderung bedeutet, über die (natürlichen und menschengemachten) Gründe des Klimawandels Bescheid zu wissen, sich der eigenen Möglichkeiten bewusst zu werden, wie die schädlichen Folgen der Klimaveränderungen für die Menschen minimiert werden können, und die Klimapolitik wirksam werden kann [36].

Wie kann es möglich sein, aus dem selbstverschuldeten Egoismus auszubrechen?

Sowohl im individuellen, als auch im kollektiven Denken und Handeln, steht der Mensch auf dem Grad, auf dessen einen Seite Optimismus und Zuversicht lockt, und auf der anderen Pessimismus und fatalistische Einstellungen drohen. Es gilt, den Balanceakt zu leben, um sich weder in gefährliche Euphorie zu stürzen, noch in lähmende Passivität zu verfallen. Da hilft, sich bewusst zu machen, dass der anthrôpos als ein Lebewesen verstanden wird, das in der Lage ist, seinen Verstand zu gebrauchen. Mit dem Zuspruch „Sei du selbst!“, und mit der Aufforderung, den „aufrechten Gang“ als Symbol der eigenen, verantwortlichen Denkfähigkeit einzuüben, wird die Lebenslehre verbunden, im individuellen und kollektiven Denken und Handeln einen Perspektivenwechsel zu vollziehen, hin zu mehr Empathie und Menschlichkeit. Um hinter den Kamalitäten, Konflikten, Karambolagen, Kollusionen, Konspirationen, Kolportagen, Komplotten, Konfusionen, Korruptionen und kriminellen Machenschaften Licht in diesem Tunnel von Macht und Egozentrismus zu finden und zu erkennen, dass „jeder von uns auch mit einfachen Mitteln zwar die Welt nicht retten, aber Unglaubliches bewirken und anderen den Weg zu einem besseren Leben ebnen kann“. Diese optimistische und perspektivenreiche Erkenntnis vertreten das Journalistenehepaar Nicholas D. Kristof  und Sheryl WuDunn [37], indem sie anhand von zahlreichen Beispielen aufzeigen, „dass es nicht deprimierend sein muss, den Problemen der Welt ins Auge zu sehen, sondern dass es vielmehr eine Inspirationsquelle sein kann, weil Krisen, die den Menschen innewohnende Hilfsbereitschaft zum Leben erwecken“. Sie plädieren für eine „Kultur des Altruismus und der Empathie“. Mit ihrem „Kodex des Gebens“ fordern die Erzähler die Leser auf, sich dem Pessimismus und Fatalismus nicht hinzugeben, sondern mit kleinen Schritten sofort bei sich selbst anzufangen, für mehr Chancengerechtigkeit lokal und global einzutreten. Sie ermuntern die Leser, in den nächsten sechs Minuten sechs Schritte anzugehen, mit denen erfahrbar werden kann, dass Gutes, Hilfreiches und Lebensrettendes für andere zu tun, bedeutet, das Eigene, Humane und Existentielle zu stärken. Mit der Metapher „Tanz des Lebens“ drückt die 1929 geborene US-amerikanische Systemwissenschaftlerin und Buddhismus lehrende Joanna Macy mit der Theorie der „Tiefen Ökologie“ aus, dass die Erde ein lebendes, ganzheitliches System ist, in dem alle Dinge miteinander verbunden und voneinander abhängig sind. Ob die Welt als Schlachtfeld, als Falle oder als Geliebte und Teil meiner selbst betrachtet wird, bestimmt das Weltbild. Mit dem Zuspruch „Sei du selbst!“ beeinflussen ihre Ideen und Aktivitäten Bewegungen für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Schutz der Umwelt. „Die Krise(n), die unseren Planeten bedrohen, sind von Menschen gemacht, sie entspringen einem untauglichen, krankhaften Verständnis vom Selbst“. Zusammen mit dem Trainer für angewandte Tiefenökologie, Norbert Gahbler, stellt sie fünf Geschichten vor, in denen deutlich wird, dass und wie es möglich wird, die Welt mit zu verändern. Es sind Beispiele aus den verschiedenen Teilen der Erde, die Mut machen zu handeln und den vielen, selbst- und fremdgemachten Bedenklichkeiten die Zuversicht entgegen zu setzen und mit Verstand und Herz mitzuhelfen, dass der „große Wandel“, der notwendige Perspektivenwechsel einsetzt. Joanna Macy subsummiert diese Hoffnung und diesen Willen, indem sie für Leitsätze für humanes Handeln formuliert: „Beginne mit Dankbarkeit!“ – „Fürchte dich nicht vor der Dunkelheit!“ – „Traue dich, Visionen zu haben!“ – „Nutze die Kraft der Verbundenheit!“ – „Steh zu deinem wahren Alter!“. Das sind scheinbare Allerweltsweisheiten; und es gibt genug Bedenkenträger, die ganz schnell und wortreich Gegenargumente zur Hand haben. Mit dem Gedanken- und Handlungskonstrukt der Tiefen Ökologie werden keine Rezepte und Handlungsanweisungen vermittelt, vielmehr geht es darum zu erkennen, dass „Tiefe Ökologie bedeutet, immer tiefere Fragen zu stellen“ [38].

Fazit

Das Ziel der in den Annotationen von ausgewählter Literatur vorgestellten Fragen ist, sich den kontroversen Auseinandersetzungen und Analysen zu stellen, ob und wie Globalisierung das Leben der Menschen verändert, welche Vor- und Nachteile sich ergeben und wie Entgrenzung und Befreiung von ideologisch, gesellschaftlich und politisch eingegrenztem Denken und Handeln zum Wohle und nicht zum Fluch der Menschheit wird. Diese Herausforderungen dürfen nicht den Mächtigen und Profiteuren der Globalisierung überlassen werden, sondern gehen jeden Einzelnen in den nationalen und internationalen Gesellschaften an. Für schulisches und lebenslanges Lernen ergeben sich dabei Aufgaben, wie „globale Entwicklung“ verstanden und mitgestaltet werden kann: Durch „Erkennen“, als zielgerichteter Wissensbereich; durch „Bewerten“, als kritische Reflexion und Werteorientierung; und als „Handeln“, mit der Einsicht, dass nachhaltiges, solidarisches und empathisches Denken und Tun adäquate Eigenschaften von Humanität sind [39]. In meiner Liste stehen noch zahlreiche weitere Fragen, wie etwa: „Was ist Konsum?“ – „Wie kann man ‚Bluff‘, ‚Gier‘... erkennen?“ – „Wie lässt sich ‚kriminelle Ökonomie“ verhindern?“ – „Was ist sozial?“ – „Was ist und wie geht Interkulturelles und Globales Lernen?“... Ein Blick in die wissenschaftlichen, disziplinären und interdisziplinären Forschungen zum Themenbereich zeigt die vielfältigen Bemühungen, eine bessere, gerechtere, friedlichere, humane EINE WELT zu schaffen. Das ist Grund genug, nicht pessimistisch oder gar fatalistisch in die Gegenwart und Zukunft der menschlichen Entwicklung zu schauen, sondern mit Optimismus, Zuversicht und Phantasie als zôon politikon, als politisches Lebewesen (Aristoteles), in Gemeinschaft mit allen Menschen auf der Erde zu leben. Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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