Neues Wohnen und Leben: Eine Frage der Professionalität?


Portrait Prof. MayProf. Dr. Michael May begleitete in einem Forschungsteam die Entstehung neuer Wohnformenr Menschen mit geistiger Behinderung und intensivem Förderbedarf.
Mitleben hieß da
s ambitionierte Projekt, das das Institut Soziale Arbeit für Praxisforschung und Praxisentwicklung (ISAPP) der Hochschule RheinMain nach fünf Jahren jetzt abschloss. Der Blick der Profession der Sozialen Arbeit war dem Projektpartner Lebenshilfe Landesverband Hessen sehr wichtig, um herauszufinden, was Teilhabeprozesse in Wohnformen außerhalb stationärer Einrichtungen unterstützen kann. Sozial.de sprach mit Prof. Dr. May über Ergebnisse, neue Wege und eigene Projekterfahrungen.

Prof. Dr. May: Welches persönliche Fazit ziehen Sie selbst aus diesem Forschungsprojekt?
May: Ich hatte mich vor diesem Projekte noch nie intensiv mit Menschen beschäftigt, von denen man sagt, sie hätten die Diagnose „Geistige Behinderung" und einen Förderbedarf. Das war für mich eine völlig neue Erfahrung. Der Begriff „behinderte Menschen ist ja ein doppeldeutiger. Zum Teil sind ihre Probleme organischer Natur, aber sie haben auch einen starken sozialen Aspekt in dem Sinn, dass diese Menschen in ihrer Entwicklung behindert werden. In Zukunftswerkstätten, die wir veranstaltet haben, zu sehen, wie diese Menschen an Selbstbewusstsein gewinnen und sich entwickeln, war für mich das Faszinierendste. Das bestätigte mich darin, wie wichtig die Loslösung aus den, ich sage immer noch, „Anstalten" und den paternalistisch umsorgenden Elternhäusern ist.

Welche Wohnformen haben Sie untersucht?
May: Derzeit werden in Hessen unterschiedliche Wohnformen erprobt: Das Wohnen in der eigenen Wohnung, mit oder ohne Partner, aber auch die Wohngemeinschaft unterschiedlicher Größe, vor allem in Dreier- und Vierer-WG. Inklusiv war eine einzige WG im Projekt, die anderen nehmen Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen auf.

Worin bestand der Kern Ihrer wissenschaftlichen Begleitung?
May: Es waren verschiedene Dimensionen vorgesehen, nicht alle konnten wir umsetzen. Wir hatten die Professionellen ebenso im Blick wie die Funktionäre in den Verbänden. Etwas zu kurz gekommen sind die Angehörigen. Nach unseren Zukunftswerkstätten haben wir mit ihnen die Ergebnisse diskutiert. Uns war es sehr wichtig, die Menschen mit Behinderung selbst in den Blick zu nehmen. Im Zentrum des Projektes standen deshalb Zukunftswerkstätten mit Bewohnerinnen und Bewohnern, der neuen Wohnformen. Wir haben deren Probleme thematisiert und Ausblicke entwickelt, was sie noch gern verändert hätten.

Und wie erleben die Menschen mit Behinderung eine Wohnform außerhalb stationärer Einrichtungen?
May: Restlos alle haben gesagt, dass die jetzige Wohnform wesentlich besser ist, als die davor, unabhängig davon, ob sie zu Hause gewohnt haben oder in einer Einrichtung. Eine einzige junge Frau, die zu Hause gelebt hatte, war ein wenig hin- und hergerissen. Allerdings waren die Wohngemeinschaften nicht für alle Beteiligten die Traumwohnform. 15 Prozent der Befragten würden lieber alleine leben wollen, 15 Prozent eher mit einer Partnerin oder einem Partner. Die WG-Form betrachten sie eher als Übergangslösung.
Das lag unter anderem auch daran, dass sie zum Teil nicht selbst bestimmen konnten, mit wem sie zusammenleben. Zum Teil haben das Eltern getan, ohne die solche Projekte gar nicht zustande gekommen wären, weil sie diese finanziell unterstützen, eine Wohnung angekauft oder angemietet haben. Zum Teil entschieden auch die Professionellen, wer zusammen wohnt.

Ist dieser Wunsch des selbstbestimmten Wohnens nicht vergleichbar mit dem in der Gesamtbevölkerung?
May:
Ja, aber es sind aber auch noch andere Dinge zu berücksichtigen. Nur ein Beispiel: In einer WG kann sich eine Bewohnerin nicht sprachlich ausdrücken, sie kommuniziert über Laute und einen Talker. Ein anderer Bewohner hat eine autistische Diagnose. Er leidet offensichtlich unter der Lautstärke ihrer Lautäußerungen. Er fühlt sich außerdem belastet, weil die andere Bewohnerin in der WG Schwierigkeiten hat, sich verständlich zu machen... Das war angesichts seiner Diagnose schon erstaunlich. Es hat mich im Rahmen des Projektes übrigens immer wieder erstaunt, wie achtsam Menschen mit Behinderung ihr Zusammenleben gestalten. Dahinter steht sicher auch eine pädagogische Leistung, so heterogene Leute darin zu unterstützen, eine gemeinsame Form des Zusammenlebens zu finden. Zu welchen kulturellen Leistungen aber die Menschen, die aufgrund schwerster Behinderungen nicht ernstgenommen werden, fähig sind, gehört für mich zu den Highlights der Arbeit. Davon könnten sich viele so genannte „Normale" eine Scheibe abschneiden.

Sie sprachen die pädagogische Leistung bereits an. Neue Wohnformen verändern auch im Arbeitsumfeld der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sicher jede Menge. Was davon würden Sie besonders betonen wollen?
May: Das ist für mich am schwierigsten zu beantworten. Die Bedingungen, unter denen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu arbeiten hatten, waren sehr verschieden. Unterschiede bestanden in der Finanzierung, die jeweils nur als komplexer finanzieller Mix zu realisieren war, aber auch in deren Einbindung. Wichtig dabei war auch, wer etwas zu sagen hatte. Sehr ambivalent wahrgenommen habe ich das Modell, in dem Eltern eine Auftragsgebergemeinschaft bilden. Sie sind dann die Chefs der Professionellen. Das ist nicht so einfach, die Interessen der Eltern stimmen nicht immer mit denen der Bewohnerinnen und Bewohner überein. Das wird zu einer besonderen Herausforderung für die Professionellen.

Was zeigte sich im Umgang mit den Menschen mit Behinderung?
May: Auch da haben wir sehr unterschiedliche Modi in den Zukunftswerkstätten beobachtet und den Professionellen auch zurückgespiegelt. Wir sahen fast freundschaftliche Verhältnisse zwischen Professionellen und Bewohnerinnen oder Bewohnern. Wir erlebten Professionelle, die den weit verbreiteten Anspruch an das Professionsideal der stellvertretenden Deutung betont haben. Diese Teilhabemanagerinnen und Teilhabemanger haben sehr stark für ihre Bewohnerinnen und Bewohner gesprochen. Grundsätzlich schlecht finde ich das nicht, aber es stellt sich die Frage: Woher wissen sie das? Um Missverständnisse auszuräumen., müsste an der Etablierung von Kommunikationsformen gearbeitet werden, damit die Bewohnerinnen und Bewohner im Zweifel ein Veto einlegen können. Das haben wir in den Zukunftswerkstätten als Instrument eingeführt und dabei mit Symbolen gearbeitet. Andere Professionelle wiederum haben versucht, das Ausdrucksspektrum der Menschen mit Behinderung zu erweitern, und sich in einer Art Hebammenkunst kontinuierlich rückversicherten: „Habe ich dich richtig verstanden?"

Welche Rolle spielte die Finanzierung bei der inhaltlichen Umsetzung von Wohnprojekten?
May: Eine zentrale. Insgesamt ergaben sich große Schwierigkeiten von Teilhabemangerinnen und –Teilhabemanger, wenn sie nicht selbst bestimmen können, wie sie Aufgaben wahrnehmen,
sondern dies durch die Finanzierung vorgegeben wird. Einer der größten Konfliktpunkte bei regionalen Verhandlungen war die Finanzierung von Assistenz. Nach unserer Erfahrung ist sie viel häufiger zu leisten, als der Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) bereit ist, die Kosten dafür zu übernehmen. Das haben wir auch mit Vertreterinnen und Vertretern des LWV diskutiert. Der Verband vertritt momentan die Position, dass Assistenz von den Pflegekassen finanziert wird. Wenn Menschen in die Stadt gehen wollen, dann brauche man dafür nicht einen teuer bezahlten Teilhabemanager. Das ist auch nicht immer falsch. In den Projekten wurde das auch oft praktiziert. Aber in vielen Situationen, besonders dann, wenn es gilt, Menschen darin zu stärken, sich selbst zu vertreten, braucht man eine qualifizierte Assistenz. Zum Beispiel, wenn versucht wird, Menschen mit Behinderung in einen Verein zu inkludieren oder auch in Teilhabeprozessen der Kommune. Aber dafür, das ist unser Eindruck, sind sicher noch einige dicke Bretter zu bohren...

Bietet das Bundesteilhabegesetz neue Ansätze dafür?
May: Sicher gibt es dort neue Ansätze. Aber entscheidend ist doch, wie das auf den praktizierenden Ebenen geregelt wird. Das ist ja noch völlig offen. In Hessen haben wir gesehen, wie regional ganz unterschiedliche Dinge ausgehandelt werden konnten. Wir haben viele engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LWV kennengelernt, die bereit waren, sich über den Kostenvorbehalt hinwegzusetzen. Es gibt aber auch andere, die sich eher stark an so etwas wie einem Verschiebebahnhof beteiligen, eher daran interessiert sind, Leistungen zu externalisieren und es den Projekten mit langen Bearbeitungsfristen schwerer machen.

So haben wir im Rahmen des Projektes einen ganz praktischen Leitfaden entwickelt, wie Finanzierung gelingen kann. Es ist doch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass Menschen in den „Einrichtungen" einen Pflegesatz haben, und die, die alternative Teilhabe-Formen umsetzen wollen, sich ganz komplizierte Finanzierungsmodelle zusammenbasteln müssen. Und das nicht nur am Anfang: Wenn jemand aus der WG auszieht, gerät mitunter die gesamte Finanzierung ganz schnell in Gefahr. Auch die intensiven Vorarbeiten für solch einen Bewohnerwechsel werden, wenn überhaupt, nicht adäquat finanziert.

Das ist ja keineswegs Routine für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Braucht es nicht nur neue Wege der Finanzierung, sondern auch neues Wissen in diesem Arbeitsumfeld?
May:
Auf jeden Fall. Für dieses Projekt haben wir selbst als Forschungsteam gemeinsam mit dem Landesverband der Lebenshilfe mehrere Fortbildungen für die Professionellen angeboten, weil solche Kompetenzen bisher nicht ausgebildet werden, auch an den Hochschulen nicht. Es geht dabei nicht nur um Organisation und Finanzierung solcher Wohnformen, sondern auch um ganz neue Arbeitsfelder wie Partizipation, Netzwerkarbeit, Gemeinwesenarbeit...Teilhabemanagement braucht analytisches Know-how, neue Kompetenzen der Sozialraumorientierung und der Inklusion. Ich bleibe mal beim alten Begriff der Gemeinwesenarbeit, hier müssen wir besser werden in der Ausbildung.

Die Praxis neuer Wohnformen wird also eine Rückwirkung auf die Lehre haben?
May: Sicher. In der Weiterbildung wird es schon praktiziert, es gibt auch Überlegungen der Qualifizierung in eigenen Studiengängen oder Studienrichtungen. Das ist allerdings nicht ganz so einfach...In der Behindertenhilfe gibt es viele, die noch nicht auf Bachelorniveau arbeiten, schauen Sie beispielsweise zur Heilerziehungspflege. Mit diesen Kompetenzen wird man aber im Teilhabemanagement überhaupt nicht zurechtkommen. Diejenigen, die an der Hochschule Heilpädagogik studieren, sind sehr stark schulisch orientiert. Das passt auch nicht. Deshalb müsste etwas Neues im Rahmen der Sozialen Arbeit her...

Verändert sich eine ganze Unterstützungslandschaft?
May: Durchaus...

Haben sich auch neue wissenschaftliche Fragen für Sie ergeben?
May: Wir hätten gern ein wissenschaftliches Instrument aus der frühkindlichen Bildung eingesetzt. In Deutschland hat dieses neuseeländische Modell das Deutsche Jugendinstitut in München in seinem Projekt „Lehr- und Lerngeschichten" aufgegriffen. Wir wollten mit dem gleichen Instrument untersuchen, wie Menschen mit Behinderung in der Welt sind, wie sie auf die Welt zugehen und wie sie sich in der Welt bilden. Mit anderen Worten wollten wir auf die Einzigartigkeit und Individualität der Menschen mit Behinderung fokussieren und herausfinden, ob wir der gerecht werden bzw. welcher Förderungsbedarf sich daraus ergibt. Menschen mit Behinderung werden bisher auf Variablen fokussiert: Was können sie und wo benötigen sie Unterstützungsbedarf. Jede bisherige Finanzierung und auch Instrumente der Träger aus der Behindertenhilfe wie persönliche Zukunftsplanung und funktionale Gesundheit sind von diesem Vorgehen geprägt. Der Fokus der Individualität ist aus unserer Sicht für die Unterstützung von Teilhabe und Inklusion aber von großem Gewicht. Die Behindertenhilfe steht da noch vor großen Herausforderungen. Das haben wir auch im Projekt thematisiert. Darüber hinaus drängt sich die Frage auf: Wie können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Teilhabe von Menschen in einer Einrichtung unterstützen die noch sehr stark hierarchisch strukturiert ist? Das ist ein kompletter Widerspruch.

Gibt es aus Ihrer Sicht Alternativen?
May: Ja, wir sehen sowohl bei der Assistenz als auch bei den neuen Wohnformen Möglichkeiten von Weiterentwicklungen in der Unterstützungslandschaft. Chancen sind vor allem in der Erprobung von genossenschaftlichen Modellen zu beobachten. Aber davon gibt es sehr wenige. Vorbildprojekte im Bereich Assistenz arbeiten in Bremen und Hamburg erfolgreich. Sie kommen aus der Krüppelbewegung der 1970-er Jahre. Solch Power würde heute wieder gebraucht. Neuere Ansätze sind erst zarte Pflänzchen.
Bezogen auf Wohnformen ist in Hofheim mit der örtlichen Wohngenossenschaft gerade ein Modell am entstehen, das Behindertenwerk Main Kinzig befindet sich in ersten Überlegungen und orientiert sich an einem Freiburger Modell. Um genossenschaftliche Modelle plan- und realisierbar zu machen, müsste sich aber auch der Kostenträger LWV bewegen und die Genossenschaftsanteile mitfinanzieren. Über persönliches Budget wäre das auch denkbar.

Welche Rolle hat dann der Teilhabemanger in diesem Modell?
May: Den Begriff des Teilhabemanagers haben wir im Projekt geprägt, aber er hat sich nicht überall durchgesetzt, obwohl er doch gut beschreibt, worum es geht: Wohnraum suchen, ihn zu erschließen, mit Architekten verhandeln, Kostenverhandlungen, Zugänge zum Wohnumfeld eröffnen. Hinzu kommen Aufgaben im Sozialraum, früher Gemeinwesen, das für die Behindertenhilfe als ein völlig neues Aufgabenfeld zu erschließen ist.

Herzlichen Dank für das Gespräch. Die Fragen stellte Ines Nowack.