Das Sokratische Gespräch als didaktisch-methodische Herausforderung

von Dr. Jos Schnurer
22.06.2023

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Über die Frage, wie Wissen und Lernen entsteht und sich vollzieht, gibt es seit Jahrtausenden unterschiedliche Auffassungen. Sie reichen von den  hierarchischen Vorstellungen, dass Wissen von Wissenden an Unwissende, Lernende vermittelt wird: Von der Einstellung, dass Leben als „tabula rasa“ beginnt und sich durch tätige, menschliche Entwicklung weiterbildet -  „Der Lehrer weiß alles, der Schüler weiß nichts!“ - bis hin zu den hermeneutischen Auffassungen, wie sie z. B. vom Philosophen Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) entwickelt wurden, und als Verstehens- und Wissensprozesse bis heute gelten. Mit den antiken, philosophischen Erkenntnissen, dass nicht allein die Weitergabe von Wissen, Informationen und Fakten „von oben nach unten“ Kompetenzen bilden, sondern das Fragen als mäeutischer Prozess Selbstdenken ermöglicht. Wir sind beim „Sokratischen Gespräch“, das vom griechischen Philosophen Sokrates (469 – 399 v. Chr.) als „Hebammenkunst“ bekannt gemacht und seitdem in Variationen und unterschiedlichen Perspektiven immer wieder thematisiert wird: Entdeckendes, selbständiges, fragendes, agonales Denken[i]. Die Unterschiede zeigen sich dabei in den Auffassungen, dass Wissen bereits genetisch, vorgeburtlich im Menschen angelegt sei, oder erst durch äußere Einflüsse erworben werde. Wissen entsteht lernend und dialogisierend!

Sentio ergo sum

Gefühle sind Bewegungen der Seele. Die Descartesche Feststellung "cogito ergo sum" ("ich denke, also bin ich") drückt das umfassende Ergebnis des menschlichen, individuellen und kollektiven Nachdenkens über das "Wer bin ich?" aus. Dabei mündet dieses intellektuelle Erkunden des menschlichen Daseins immer auch in der Erfahrung, dass der Mensch sich seiner Gedanken unmittelbar bewusst sei, während er die Dinge, die von der Außenwelt auf ihn einwirken, nur unmittelbar aufnehme. Die Frage, wie unser Bewusstsein entsteht, wird philosophisch meist damit beantwortet: Aus unserem bewussten Geist. Was aber unser Geist ist, lässt sich wiederum nicht messen und schon gar nicht anschauen; denn unseren Geist spüren wir nur selbst von unserem Innern heraus. Der Neurowissenschaftler António R. Damásio fragt: "Wie baut das Gehirn einen Geist auf?" und "Wie sorgt das Gehirn in diesem Geist für Bewusstsein?". Mit seiner Studie "Im Anfang war das Gefühl" (2017) untersucht er die vielfältigen, festgefügten und differenzierten Wechselwirkungen zwischen Gefühl und Verstand: "Kulturelle Tätigkeit hat ihren Ausgangspunkt im Effekt und bleibt tief in ihm verwurzelt". Die kulturelle Entwicklung des Menschen wird durch Entdeckung, Erfahrung, Staunen, Ehrfurcht, Drama und Abenteuer bestimmt. Menschliches Leben artikuliert sich als "Geist, Gefühl, Bewusstsein, Gedächtnis, Sprache, komplexe Sozialbeziehungen und kreative Intelligenz"; und die Frage, inwieweit und wie wirksam sich gelingendes und misslingendes gutes Leben gestaltet und Kultur entsteht, ist bei der Betrachtung der Geschichte der Kultur von Bedeutung. Weil alle mentalen Fähigkeiten in den Prozess des menschlichen kulturellen Denkens und Handelns in irgendeiner Form eingreifen und wirksam werden, kommt es darauf an, den kulturellen Geist im Rahmen der homöostatischen, evolutionären Entwicklung zu betrachten. Es sind Prozesse und Wirksamkeiten, die sowohl den inneren, als auch den äußeren Organismus beeinflussen, die Subjektivität des Bewusstseins steuern, die bildbasierte Gedächtnisfunktion einbeziehen, sich in emotionalen und kreativen Aktivitäten äußern, die Notwendigkeit von kooperativem Denken und Tun betonen, sich in emotionsgeladenen Bewegungen und Gesten zeigen, und in den Genen festgelegt sind. Wenn Emotionen mehr sein sollen als nicht steuerbare und nichtbeeinflussbare Gemütsbewegungen, die Willkür, Macht, Gewalt und momentane Verhaltensweisen hervorbringen und damit ein gerechtes, friedliches und gedeihliches Zusammenleben der Menschen auf der Erde unmöglich machen, bedarf es neuer Stellschrauben, Denk- und Verhaltensmodelle. Sie gründen auf der „globalen Ethik“, wie sie sich in der von den Vereinten Nationen 1948 proklamierten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ artikuliert: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt".

Sicherheit und Risiko

In der Conditio Humana wird immer wieder darauf verwiesen, dass der Mensch in seiner weltlichen Existenz ein unvollständiges, unfertiges, verletzliches Lebewesen ist. Er bedarf der Aufrichtung, Aufklärung, Bildung und Erziehung. Als eine Herausforderung kann bezeichnet werden, dass dem Menschen dies bewusst ist, dass diese Erkenntnis ihn dazu bringt, an diesem Defizit etwas zu ändern; freilich nicht egozentristisch und mit Allmachtsdenken, sondern mit dem Bemühen, eine eigene, selbstbewusste Identität zu entwickeln, zu lernen und zu erfahren, dass Eigensinn eingebunden sein muss in ein altruistisches Bewusstsein: "Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst!". Weil Sicherheiten und Risiken im Leben der Menschen natürliche Bestandteile sind. Der Philosoph Julian Nida-Rümelin und seine Frau, die Schriftstellerin und Medienwissenschaftlerin Nathalie Weidenfeld, plädieren für ein realistisches Verständnis von Risiken und für eine ethisch begründete Risikopraxis. Sie fragen, wie es gelingen kann, die Realität des Risikos realistisch zu verstehen und deutlich zu machen, dass "Risiko [...] kein Konstrukt der postmodernen 1990er Jahre mehr [ist], sondern Realität". Sie wollen damit einen Kontrapunkt zur postmodernen, unernsten, antirealistischen, perspektivischen Sicht auf Risiko setzen. wie es nach wie vor in den Sozial- und Kulturwissenschaften thematisiert wird. Sie legen eine Alternative vor: "Containment und Risikostratifikation". Es sind effektive Interventionen, die lokal und global notwendig sind, um Risiken, Konflikte und Krisen zu verhindern oder zumindest einzudämmen und kontrollieren zu können. Gleichzeitig bedarf es eines effektiven Schutzes von vulnerablen Gruppen (Risikostratifikation), und Präventionsmaßnahmen, um mit Unsicherheiten umgehen zu können. Nur eine realistische, wahre Sichtweise und Auseinandersetzung mit Risiken und Krisen, ob menschengemachte oder natürliche, kann Wirklichkeit wiedergeben. Das Plädoyer für Urteilskraft ist eine Aufforderung zur Bildung eines ethischen, humanen Denkens und Handelns (2021)[ii].

Resilienz und Resonanz

In den Zeiten der Globalisierung wird Aufklärung zu einer entscheidenden Herausforderung. Der Mensch in seiner Individualität braucht die Gewissheit, dass er ein wichtiges Glied in der Gesamtheit der Menschheit darstellt, in Selbständigkeit und Abhängigkeit. Es ist die Einsicht, dass jeder Mensch permanent die Verantwortung für eine humane Existenz aller Menschen mit sich trägt. Die Kompetenz, seelische und körperliche Lebens- und Widerstandskräfte gegenüber dem eigenen Sein und dem humanen Dasein der Menschheit zu entwickeln, wird als „Resilienz“ bezeichnet. Es ist notwendig, eine Balance zu finden zwischen Ordnung und Freiheit, Rechten und Pflichten, Individualität und Kollektivität, Machtausübung und Akzeptanz, Anpassung und Widerstand. Es ist ein Perspektiven- und Paradigmenwechsel gefragt. Der Psychologe und Psychotherapeut Klaus Fröhlich-Gildhoff geht der Frage nach, wie es bei den institutionalisierten, vorschulischen, schulischen und Erwachsenenbildungsprozessen gelingen kann, positives Denken negativen Einstellungen entgegenzusetzen, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden, Fakten gegenüber Fake News abzugrenzen. Die Erfahrungen zeigen, dass die dem Menschen zugeeignete Fähigkeit, Allgemeinurteile zu bilden und zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können, auf keinen genetischen Automatismus beruht, sondern anerzogen werden müssen. Kultur ist alles! Diese lapidare Aussage ist obsolet und gleichzeitig valid; denn wenn Kultur die Gesamtheit von typischen Lebensformen, Denkweisen und Wertvorstellungen einer Bevölkerungsgruppe bezeichnet, wie dies die „Weltkonferenz über Kulturpolitik“ der UNESCO 1982 definierte, ist kulturelles Denken und Handeln gleichwertig – wenn es auf der Basis der „globalen Ethik“ beruht. Im Theorie- und Praxis-(Denk-)Streit über die Universalismus-Relativismus-Debatte wird „kulturelle Identität“ entweder als ethnisch festgelegter Standard, oder als global offene, interkulturelle Einstellung verstanden. Die kreative Vielfalt der Menschheit erfordert ein universales Denken und Tun – und damit eine interkulturelle Kompetenz! In der sich immer internationaler und globaler entwickelnden (Einen?) Welt kommt es darauf an, kulturell über den Gartenzaun zu schauen. Es sind die intellektuellen Anforderungen an den anthrôpos, der nach einem guten, gelingenden Leben strebt. Interkulturelle Kompetenz als lokal und global gewordene kommunikative Fähigkeit beinhaltet individuelles und kollektives, alltags- und gesellschaftstaugliches Bewusstsein und Können. Es sind professionelle Anforderungen, die weder vom Himmel fallen, noch in den Genen liegen, und schon gar nicht per Ordre du Mufti vorgegeben werden dürfen. Sie müssen in Bildungs-, Erziehungs- und Aufklärungsprozessen vermittelt werden.

Plastizität und Metaphern-Analyse

Die Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung des Menschen ist immer eingebunden in die Parameter von Tradition, Wissen, Erfahrung und moralischem Werteempfinden. Es geht darum, den Redewendungen, Benennungen und Deutungen über die Imponderabilien des Lebens auf den Grund zu gehen. Die Gewissheit, dass der Mensch ein evolutionäres Lebewesen ist, muss unterfüttert werden mit dem philosophischen und anthropologischen Auseinandersetzung über das Ich, das Du und das Wir. Es sind Fragen nach dem „Wer bin ich?“, und es ist das Nachdenken darüber: „Wie bin ich geworden, was ich bin?“[iii]. Der US-amerikanische Psychologe Abraham H. Maslow (1908 – 1970) hat bei seinen Untersuchungen über das Was-, Wer- und Wie-Sein der Menschen betont, dass (im Prinzip) jeder Mensch ein einzigartiger Mystiker ist. Bei seiner Suche nach der Menschlichkeit retournierte er die allgemeine und gewohnte Fragestellung: „Was macht den Menschen krank?“ damit, dass er nachschaute: „Was zeichnet psychisch gesunde Menschen besonders aus?“. Er erkannte, dass die psychisch Gesunden zu „mystischen Erfahrungen“ tendieren. Damit freilich will er keinesfalls dem Orakelhaften, dem Obskuren und den Wirklichkeits- und Wahrheitsverleugnern Argumente bieten; vielmehr sind es die intellektuellen Anstrengungen, die eine humane Logik und Ethik erzeugen[iv].

Fazit

Denken als Vergegenwärtigung des existentiellen, des vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, individuellen und kollektiven Lebens der Menschen basiert auf der Vernunftbegabung und der Fähigkeit, den Verstand zu benutzen, Allgemeinurteile bilden, zwischen Gut und Böse und Wahrheit von Fake News unterscheiden zu können. Im Denken als physiologische und intellektuelle Fähigkeit vollzieht sich das Humanum, als Kompetenz und Herausforderung, individuell und kollektiv zu existieren. Es ist die Substanz und Qualität, die das Denken des Denkens, als noêsis noêseôs, ausmacht. In der aristotelischen Philosophie kommt zum Ausdruck, dass Denken immer auch als Gegenüber und Konsequenz die Suche nach einer objektiven Wahrheit und Wirklichkeit benötigt: „Es lässt sich überhaupt nur von Denken sprechen, wenn es etwas, d.h. ein Objekt gibt, das gedacht wird“ (Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 374ff). Es ist die Theorie und Praxis des Sprachgebrauchs und der Ausdrucksfähigkeit, die sich „in einfach Denken, Denken-an, Denken-dass, sich-etwas Denken und Beisichdenken“ artikuliert. Damit wird deutlich: „Denken ist regelbar“. Und es ergibt sich, dass Denken „Beiherspielen“ wie auch ein „komplexes Redetun“ sein kann. Weil der Gedanke der Beginn des Denkens ist, braucht es die Fähigkeit, ganzheitlich zu denken. Es ist die Kantische Aufforderung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, die eigenes Denken  ermöglicht[v]. Das „sokratische Gespräch“ zeigt sich im dialogischen, interdisziplinären, gemeinschaftlichen. didaktischen Diskurs.



[i] Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php; https://www.sozial.de/ein-pendant-zum-fachbezogenen-Lernen.html, 12.8.2015

[ii] Jos Schnurer, Objektivität und Subjektivität – Antikeimenon des Lebens, 30.5.2021

[iii] Joachim Bauer, Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29229.php

[iv] Abraham H. Maslow, Jeder Mensch ist ein Mystiker. Impulse für die seelische Ganzwerdung, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16223.php

[v] Rainer Lambrecht, Denken, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24789.php